Verdorbene Jugend. Horst Riemenschneider
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Mit dem Mehlschuss sollte das so dargestellt werden, dass es dem Tell’schen Schuss glich. Schönfelder holte sich dann einfach Dr. Wacker und postierte ihn. Da man nun keinen Apfel zur Verfügung hatte, war ein Käseschachtel aus Pappe dazu auserkoren. Die hat er versucht mit der hohen Kannte auf den Kopf von Dr. Wacker aufzubringen, was natürlich nicht gleich gelang. Das ergab schon allerhand Spaß. Er versuchte das mehrmals mit den entsprechenden Kommentaren. Zuletzt sollte Dr. Wacker die Dose selbst festhalten, was er aber spaßig verweigerte. Schönfelder legte schließlich die Käsedose flach auf den Kopf und schoss nun mit dem erwarteten Erfolg. Das war der Schluss dieses Abends. In der Nacht haben Lehrlinge des dritten Lehrjahres das Gesicht des Dr. Wacker noch mit schwarzer Schuhkreme eingeschmiert, während Wacker in seinem Gästebett schlief. Das wurde vom Heimleiter nicht sehr freundlich aufgenommen.
Die Studenten und Wacker mit Anhang schliefen in einer der Baracken, die unterhalb der Lager- oder Hohen Feldstraße lagen. Dr. Wacker war berüchtigt ob seiner Maulschellen, die er verteilte, wenn etwas nicht ordnungsgemäß oder jemand zu frech war. Die Schläge kamen so schnell, dass man Mühe hatte, das Geschehen zu verfolgen. Klatsch, klatsch und man war bedient. Mir ist es zum Glück nicht passiert. Diese Vorfälle gab es vor allen in oberen Lehrjahren, weil da die Lehrlinge schon frecher waren.
Das Geld
Das Lehrlingsentgelt oder die Lehrbeihilfe gab es monatlich. Halbjährlich wurde es erhöht. Die genauen Summen sind mir entfallen. Es steigerte sich von 13 Komma und zerquetschte im ersten Halbjahr auf 28 Komma und zerquetschte Mark im sechsten Halbjahr. Für die, die noch ein siebtes Halbjahr absolvieren mussten, wie Maschinenbauer und Werkzeugmacher, gab es dann noch einmal einen Aufschlag, wonach es dann über 30 Reichsmark ging.
Das Geld war knapp. Es reichte gerade dazu aus, den Bedarf an Essenmarken zu decken und wenn noch ein Heft, Stift oder Radiergummi gebraucht wurde, sah es schon recht dünn aus. Von den Eltern hatte ich im ersten Lehrjahr nichts zu erwarten, mussten sie doch schon die 35 Mark für das Lehrlingsheim monatlich aufbringen.
Im Betrieb konnte man sich zum Frühstück eine Tasse „Muckefuck“ mit Milch kaufen. Die kostete fünf Pfennige. Selbst diese wenigen Pfennige konnte ich oft nicht aufbringen und bettelte mir von diesem oder jenem Lehrling einen Schluck Kaffee. Das war mir recht peinlich, aber was sollte ich tun, wenn es beim Essen recht trocken wurde im Mund. Die drei Doppelstullen, die mir der Hunger gebot hinunterzuwürgen, benötigten schon ab und zu etwas Nasses. Drei Doppelstullen bekamen wir vom Heim mit. Die waren meist vom Brot von gestern. Also etwas trocken.
Mit dem Geld musste ich aber auch so haushalten, damit ich, wenn ich heimfahren wollte, auch noch das Fahrgeld hatte. Der Kilometer bei der Bahn kostete damals vier Pfennige. Bis Ronneburg waren es rund 150 Kilometer von Suhl. Nach Bürgel war es etwas kürzer, aber da musste ich in Jena auf den Bus umsteigen, wenn ich nicht die siebzehn Kilometer „mit dem Esel“, wie wir die Eisenbahn in Bürgel nannten, fahren und warten wollte. Also sechs Reichsmark und eine Reserve musste ich beisammen haben. Wenn ich daheim war und mein Großvater Josef hatte das mitbekommen, kam er immer heimlich, meist am Sonntag Vormittag, weil ich nachmittags fahren musste, und drückte mir ein paar Mark in die Hand. Das sollte niemand wissen. Er versuchte dabei immer, mich außerhalb unserer Wohnung zu erwischen, damit das auch meine Mutter, seine Tochter, nicht mitbekommen sollte.
Noch einmal zu den Essenmarken, die wir täglich benötigten. Auch am Sonnabend wurde gegessen. Es waren also in einer Woche sechs mal 30 Pfennige aufzubringen. Das waren wöchentlich 1,80 RM und im Monat meistens über acht Reichsmark. Es blieb mir somit im zweiten Halbjahr etwas mehr Geld in meine Kasse.
Die Appelle und die Arbeitszeit
In einer jeden Woche hatten wir zwei Appelle. Einen Wochenanfangsappell und einen Wochenschlussappell. Zu diesen Appellen mussten wir uns in den großen Festsaal begeben. Alle vier Lehrjahre waren dann zugegen. Im 4. Lehrjahr waren jene, die 3 ½ Jahre lernen mussten.
Der Wochenanfangsappell dauerte in der Regel eine halbe Stunde und der Schlussappell eine viertel Stunde. Die Appelle dienten zur Entwicklung und Festigung der nationalsozialistischen Ideologie. So lang wie die Appelle waren, wurde geredet. Einer dieser Redner, der oft auftrat, hieß Weisheit. Seine Reden waren besonders unbeliebt und langweilig.
Für uns war es wichtig, pünktlich beim Appell zu sein. Am Wochenanfangsappell war das weiter kein Problem. Mussten wir sonst fünf Minuten vor Arbeitsbeginn in der Werkstatt sein, wurden wir ebenso fünf Minuten vor Appellbeginn im großen Saal erwartet. Da gab es kein Ausweichen und wenn geschludert, keine Ausrede. Beim Wochenanfangsappell wurde die „Wochenlosung“ bekannt gegeben, die dann in das Werkbuch, auch Berichtsheft genannt, im Kopf eines jeden Wochenblattes eingetragen werden musste. Da ärgerten wir uns über lange Losungen und freuten uns natürlich über kurze.
Mussten wir von der Lehrwerkstatt aus zum Wochenschlussappell, war das kein Problem. Am Sonnabendvormittag, so gegen zehn Uhr, wurde ein großer Teil von uns zum Maschinenputzen in andere Werkstätten beordert. Meistens war das im Werkzeugbau, der in einem großen und neuen Gebäude untergebracht war. Hier mussten wir uns sputen, rechtzeitig fertig zu werden, damit wir unsere Putzgeräte an der betreffenden Werkzeugausgabe abgeben und unsere Werkzeugmarken zurückerhalten konnten. Klappte das nicht so richtig, weil der Werkzeugausgeber gerade nicht zugegen war, konnte es passieren, dass man zum Schlussappell im 100-Meter-Tempo sausen musste.
Es gab zwei unterschiedliche Arbeitszeiten. Für Lehrlinge unter 16 Jahren galt eine wöchentliche Arbeitszeit von 47 ¾ Stunden. Täglich waren das 8 Stunden und 35 Minuten, wobei die Sonnabendszeit vier Stunden und 50 Minuten betrug. War man 16 Jahre geworden, stieg die wöchentliche Arbeitszeit auf 54 Stunden, wobei neun Stunden und 50 Minuten, außer Sonnabends, täglich geleistet werden mussten. Sonnabends wieder vier Stunden und 50 Minuten.
Meine persönliche Arbeitszeit betrug im ersten und im zweiten Lehrjahr bis zum 8. Januar 1942 47 ¾ Stunden. Danach kamen dann die langen Tage, die kein Ende nehmen wollten. Bei der 54-Stundenwoche war am Nachmittag von 15 : 50 bis 16 : 00 eine Vesperpause, bei der man nur am Arbeitsplatz ein paar Krumen hinunter muffelte.
Die Berufsschule im ersten Lehrjahr
Meine Lust zur Schule hatte sich bisher kaum geändert. Besonders „madig“ war es, wenn wir beim Meister Dietz Arbeitstechniken hatten. Ich hatte große Mühe, die Augen offen zu halten.
Ähnlich war es im Fach Technisches Zeichnen. Das hat mir außerdem gleich den Appetit auf den Beruf verdorben, obwohl die Sache an sich interessant war. Alle Zeichnungen mussten wir ohne Lineal ausführen. Und dann noch die Normschrift, eine Druckschrift, die eine vorgeschriebene Schräglage von 75 Grad nach rechts besitzen musste. Das durften wir dann in Hausaufgaben ausgiebig üben. Es gelang uns immer besser, gerade Linien zu ziehen. Das war aber dann auch nicht besonders schwer, weil wir kariertes Papier verwendeten, wo die Linien einen Abstand von fünf Millimetern hatten. Wir sollten das deshalb so lernen, damit wir dann später in einer Werkstatt ordentliche Skizzen anfertigen könnten.
Bis auf den Sport machte mir die Schule keine Freude. Der Sportlehrer nahm uns tüchtig heran. Besonders hart war das Lauftraining. Man merkte aber auch, dass unsere Laufleistungen besser wurden, obwohl das nur zwei Stunden in der Woche waren, an denen wir Sportunterricht und somit Lauftraining hatten. Zum Sportunterricht und zu anderen Gelegenheiten, stand ein großer Sportplatz zur Verfügung und bei schlechtem Wetter oder im Winter eine große Sportbaracke.
Die Leibesübungen, die wir ab und zu kurz während der Arbeitszeit durchführten, absolvierten wir auf einem großen gepflasterten Platz, der seitlich vor dem Sportplatz lag. Der Sportplatz lag außerdem