Lindenstadt und sächsischer Kleinkram. Jens Rübner

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Lindenstadt und sächsischer Kleinkram - Jens Rübner

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soll man die Bilder einer Stadt ohne Geräusche, Geschäfte und vor allem ohne ihre Menschen mit ihren Geschichten beschreiben? Eine praktische Art, eine Stadt kennenzulernen, besteht darin, sich anzuschauen, wie in ihr gearbeitet, geliebt, gelebt und gestorben wird.

      Wer Arbeit hat, dem geht’s – wie überall – gut. Dem fehlt lediglich die Zeit zum Leben. Er schwimmt durch die Tage und taucht erst am Wochenende wieder auf. Vor lauter Betriebsamkeit und Geschäftemacherei verlieren die meisten Erwachsenen in ihrem Alltag, in ihren Problemen und Sorgen die Freude über die kleinen Dinge des Lebens. Doch gerade darin liegt der Schlüssel zur Zufriedenheit.

      Natürlich haben sie auch Freunde, Frauen/Männer, lieben gutes Essen, das Kino oder das Faulenzen am See. Vernünftigerweise behalten sie diese Vergnügungen dem Wochenende vor und bemühen sich an den Wochentagen Geld zu verdienen.

      Eine weitere sinnvolle Art, eine Stadt kennenzulernen, wäre ein Buch darüber zu lesen. Streifen Sie also mit mir durch Leipzigs Straßen – folgen hupenden Autos, dem bunten Treiben auf Straßen, Plätzen und in den Parks. Lauschen den Gesprächen oder der lauten Musik: Geräusche, die von Lebendigkeit und kultureller Vielfalt einer Stadt zeugen. Begeben Sie sich mit mir auf die Spurensuche nach Wissens- und Bewahrenswertem unter den kleinen Dingen des Lebens. Geschichten und Lebensbilder, in denen es nicht um ewige Jugend, Reichtum oder Schönheit geht. Nein, um „sächsischen Kleinkram“, über das Labyrinth der Wörter und die damit verbundene Mischung aus Komik und Tragik.

      Das Wissens- und Erhaltenswerte liegt nicht in der großen weiten Welt, sondern beginnt gleich um die Ecke!

      Es gab mal Zeiten, in denen die Vulven (weibliche Scham), alle behaart und nicht nackt rasiert waren. Viele frühe Kulturen haben gar die Vulva verehrt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sie in der Kunst ihren magischen Zauber entfalten durfte.

      Es ist interessant zu lesen, wie ungeniert und ausgelassen ein als eher steif verschrienes Volk wie die Deutschen in vergangenen Jahrhunderten seine Sexualität ausgelebt hat. Früher waren alle prüde? Von wegen! Lust, Laster, Ekstase, Vergnügungssucht und Pornografie gepaart mit provozierenden und verdorbenen Geschichten gibt es schon seit Menschengedenken.

      Früher, ja früher war nicht alles besser, aber anders. Man tuschelt und man munkelt. Neid und Neugier sind die Triebkräfte, die in das Dunkel von Sodom und Gomorrha blicken lassen. Selbst der Theologieprofessor und Reformator Martin Luther betitelte die Messestadt seinerzeit als ein einziges Sodom und Gomorrha.

      Es wird behauptet, dass das 18. Jahrhundert das eigentliche Jahrhundert der Prostitution war. Leipzig besaß im Gegensatz zu anderen deutschen Städten keine Bordelle beziehungsweise privilegierte Häuser, aber man gab sich Mühe, in zig öffentlichen Vergnügungsstätten und privaten Wirtschaften aller Art in und um Leipzig diesem Mangel abzuhelfen. Als Hochburgen des Lebensgenusses galten – die Große Funkenburg auch „Tempel der Wollust“ genannt sowie die auch in Goethes „Dichtung und Wahrheit“ genannte Promenade vom Barfuß- bis zum Thomaspförtchen. Somit war Leipzig seinem ganzen Treiben nach ein Miniaturbild von Paris, eine Stätte des Vergnügens. Verdorbenes, Schmutziges und Frivoles waren demzufolge keine Seltenheit, besonders wenn es Nacht wurde, war ‚Klein-Paris‘ eine Stadt, ein Hort der Völlerei, Trunksucht und Unzucht. So waren nicht nur Messegäste und Händler, nein auch Ganoven, Gauner sowie „gemeine Weiber und anderes loses Gesindel“ hier zu Geld gekommen und gaben es meist auch gleich wieder aus.

      Skandale haben etwas Anrüchiges, sie sind das Schlüsselloch zu einer Welt, die für die meisten unerreichbar bleibt. Die Menschen gieren seit Bestehen nach Skandalen. Publikationen und einigen Autoren zufolge gab es über die gebürtige Leipzigerin Anita Berber (1899 – 1928) immer etwas zu tuscheln. Sie zickte, zog sich aus und nahm sich Männer, wie sie wollte. Anita Berber – die Schamlose aus Opas Kino. Einschlägige Fachzeitschriften und Lexika beschreiben darin selbst die Künstlerin Madonna und das „It-Girl“, die Erbin des Hilton –Vermögens, Paris Hilton, als Klosterschülerinnen im Vergleich zu ihr.

      In Babelsberg spielt sie in den Filmen Anders als die Anderen, (1919), dem ersten Film mit homosexueller Thematik weltweit, der nach Wiedereinführung der Zensur verboten wurde. Es folgen im Jahr 1920 – Nachtgestalten und in Fritz Langs Dr. Mabuse, der Spieler, zwei Jahre später agiert sie als „Tänzerin im Frack“. Hier doubelt sie die Tochter eines norwegischen Politikers, die die Rolle der verruchten Tänzerin Cara Carozza spielt, aber selbst nicht tanzen kann. Ein Auftritt, der unter die Haut geht und letztendlich damit endet, dass die Berber ihren Frack fallen lässt und nichts darunter trägt. Diese Szene wiederholt sie Stunden später nochmals. Doch diesmal nicht vor der Kamera, sondern vor fremden Menschen im Nobelhotel „Adlon“. Ein namensloser Gönner hatte sie eingeladen. Als der Pelzmantel fällt und nichts als nackte Haut zum Vorschein kommt, flüchtet der beleibte Herr ohne die Rechnung zu begleichen.“ (Auszug aus 100 Jahre Babelsberg – Das deutsche Hollywood)

      Anita Berber, die ‚Oma‘ mit der großen … wurde am 10. Juni 1899 in Leipzig geboren; ihr Vater war der berühmte Geiger des Leipziger Gewandhausorchesters, Professor Felix Berber; ihre war Mutter die Kabarettistin und Chansonniere Lucie Berber, die unter anderem im Berliner „Chat noir" und im „Linden-Cabaret" Erfolge feierte. Anita Berber, Tänzerin, Schauspielerin und Selbstdarstellerin par excellence. Die wohl gewagteste Frau ihrer Zeit, heute spricht man wohl von einem „It-Girl“! Die Berber war (noch) nicht berühmt, aber schon berüchtigt. Nicht nur durch ihre schlüpfrigen Tänze mit den aufregenden Namen „Morphium“ und „Kokain“. Dass sie Letzteren selbst sehr zugetan ist, bleibt niemandem verborgen. Am Ende war es so schlimm, dass es immer häufiger auch während ihrer Darbietungen zu Tumulten kam. Obszöne Worte flogen durch die Luft, Freier, besoffene Gäste wollten sie anfassen – sie sprang splitternackt von der Bühne … Tische krachten zu Boden, Stühle flogen und wem ihr Spektakel nicht gefiel, bekam schon mal eins auf die Mütze, um nicht deutlicher zu werden, in die Fresse!

      Zum Schluss trank die Berber eine Flasche Hochprozentiges und mehr, ihre Nasenflügel waren stark entzündet vom ständigen Kokainkonsum. Das Koksen war in. Kokain wurde zur Modedroge der „wilden Zwanziger“. Er galt als Treibstoff der neuen, schnelllebigen Zeit. Eine, die es zelebrierte, ja bis zum exzessiven Höhepunkt trieb, war Anita Berber; ihre tragische Figur – ein Sinnbild der Exzesse der „stürmischen 20er Jahre“.

      Eine Ikone des Berliner Nachtlebens, ein skandalträchtiges Sternchen trat im Alter von nur 29 Jahren am 10. November 1928 von der Bühne des Lebens. Sie „verbrannte“ sich innerlich letztendlich selbst und starb an den Folgen ihrer Tuberkulose. Es war wohl die Quittung für ihr frevelhaftes, lasterhaftes irdisches Tun.

      Dutzende von männlichen und weiblichen Geliebten, Verschleiß von drei Ehemännern sowie Verkauf an zig Freier für eine Nacht, wird am Ende in ihrer Vita zu lesen sein.

      Die Rede ist vom Regisseur, Schauspieler und Übersetzer Hans Detlef Sierck (1897 – 1984), der es später unter dem Namen Douglas Sirk zum Meister des Hollywood-Melodrams brachte.

      Sein Kurzaufenthalt in der sächsischen Lindenstadt war eine wegweisende und wichtige Station in seinem bewegten Leben. Geradezu ins Schwärmen geraten reifere Bühnenfreunde, wenn vom Alten Theater in Leipzig die Rede ist. Das Alte Theater am Richard-Wagner-Platz war die erste Theaterbühne dieser Stadt. Der Standort, heute schwer auszumachen, war dort, wo sich nahe dem Brühl auf dem Tröndlinring die Schienen der Straßenbahn in die Richtungen Goerdelerring, Ranstädter Steinweg und Pfaffendorfer Straße teilen. Das Gebäude wurde Anfang Dezember 1943 durch einen Luftangriff zerstört. An diesem Theater war Sierck (1929 – 1935) erst als Regisseur tätig, später wird er zum Intendanten berufen, damit ist er zu jener Zeit in Deutschland der

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