Heimkehr. Jan Eik
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In der Küche stand der Kuchen auf dem Tisch, und sein hungriger Blick entging ihr nicht. «Ich habe mich nicht einmal vorgestellt», sagte er. Er war größer als Heinz und wahrscheinlich älter. «Werner Böhnisch.» Er streckte seine Hand aus, die sie zögernd ergriff. «Aus Gartz an der Oder. Aber da liegt alles in Trümmern …» Er war unrasiert und roch streng.
Sie bot ihm einen Stuhl an.
Er sank darauf nieder, als hätte er seit Wochen nicht mehr gesessen. «Hat Heinz meinen Namen nicht erwähnt?», fragte er. «Wann kommt er denn zurück?»
«Das frage ich Sie!», entgegnete Alma, und die Tränen traten ihr in die Augen. «Hier hat er sich jedenfalls noch nicht gemeldet.» Sie baute sich mit einigen Schritten Abstand vor ihm auf und musterte ihn erwartungsvoll. «Ich denke, Sie sind zusammen entlassen worden?»
Er schüttelte den Kopf. Seine blonden Haare über dem schmutzigen Verband sahen ungewaschen und strähnig aus. Hoffentlich hatte der keine Läuse!
«Nicht direkt», sagte er. «Wir sind nur bis Frankfurt/Oder zusammen gewesen. Er müsste eigentlich schon vor zwei, drei Tagen entlassen worden sein.»
Alma nickte. So lange erwartete sie ihn ja. Ihr fiel etwas ein. «Aber Sie heißen Böhnisch mit B, und er heißt Umbreit mit U.»
Wieder schüttelte Böhnisch den Kopf. «Bei den Russen geht es nicht nach dem Alphabet», sagte er. «Die haben ihr eigenes System. Wer mit dem Hintern nicht mehr hochkommt, den entlassen sie. Die anderen …», er machte eine ungewisse Handbewegung, «… ab nach Sibirien.»
Alma schauderte es. «Sie meinen, dass die Heinz noch in letzter Minute …»
«Das glaube ich eigentlich nicht. Er hatte alle Papiere und hat sich von mir verabschiedet. ‹Wiedersehen in Berlin›, hat er gesagt. ‹Vergiss die Adressen nicht!›» Er blickte Alma, deren zerfurchtes Gesicht sich auf gleicher Höhe mit dem seinen befand, ungläubig an. «Und nun sagen Sie, er ist hier noch gar nicht aufgetaucht?»
Alma nickte beklommen. Das hatte sie insgeheim die ganze Zeit befürchtet, dass alles nur Propaganda war und gar nicht alle entlassen wurden, deren Namen in der Zeitung standen. Vielleicht hatte Heinz gutgläubig ihren Namen genannt und ihre Adresse, und sie hatten herausgefunden, dass sie demnächst vor diese Kommission musste, und hielten ihn deshalb zurück. Aber das konnte sie diesem Böhnisch nicht erzählen, wer weiß, was das für einer war. Zwölf Jahre lang hatten die Leute Angst davor gehabt, denunziert zu werden, und nun war alles noch genauso schlimm …
Ach was! Entschlossen ging sie zum Gaskocher und griff nach dem Kessel. «Ich brühe Ihnen wenigstens einen Kaffee auf», sagte sie. «Was anderes kann ich Ihnen nicht anbieten.»
Mit seinem Blick verschlang er den Kuchen.
«Den habe ich für Heinz gebacken», sagte Alma widerstrebend, bevor sie das Schubfach aufzog, um ein Messer herauszunehmen.
FÜNF
«WANN sind die Fotos fertig?», wollte Kappe wissen.
Schieck hob die Schultern. «Erst muss mal der Film entwickelt werden und trocknen. Vor morgen Mittag ist da nichts zu machen.»
Mit Mühe hatten sie sich in Buch in die S-Bahn gedrängt, die jetzt in den Bahnhof Gesundbrunnen einfuhr, wo viele umstiegen.
«Morgen Mittag?», erkundigte sich Kappe, als hätte er sich verhört. «Früher hatte ich so was nach zwei Stunden auf dem Tisch!» Er wusste, dass er mit dieser Bemerkung Schiecks Zorn erregte.
«Ja, ja, ihr hattet ein sagenhaftes Auto und studierte Techniker, und alles war überhaupt viel besser!», keifte der Fotograf ärgerlich und gleichwohl bemüht, nicht alle dicht um sie Gedrängten über ihren Gesprächsgegenstand aufzuklären. Dennoch konnte er sich nicht zurückhalten, leise und scharf hinzuzufügen: «Und alle waren bei der SS!»
«Die meisten», entgegnete Kappe ruhig. Er hatte genug davon, dass dieser Oberpimpf ihn ewig anstänkerte. Im Grunde war es gleichgültig, wann die Fotos vorlagen. Ein paar Stunden mehr oder weniger machten in dem Fall kaum etwas aus. Und ob die Frau sich damit identifizieren ließ, stand in den Sternen.
«Bringst du mir das mit dem Filmentwickeln bei?» Das war Holtefret, dem Schieck in der Hoffnung auf einen potenziellen jungen Genossen und damit auf einen Verbündeten gegen Kappe gleich das Du angeboten hatte.
Udo Schieck tat sich wichtig, lehnte aber nicht ab. «Kommt alles auf die Qualität der Chemikalien und die richtige Temperatur an», klärte er den künftigen Lehrling auf. «Da braucht man viel Fingerspitzengefühl.»
Eddie Holtefret nickte zufrieden. Als Junge hatte er eine Agfa-Box sein Eigen genannt und damit manchen, wie er jedenfalls fand, schönen Schnappschuss gemacht. Aber es dauerte, bis man die Bilder endlich in der Hand hielt, und es kostete. Wenn dieser Udo ihm das Entwickeln und das Vergrößern beibrachte, konnte er damit vor Roswitha glänzen, und sie brauchte nicht länger nach einem zuverlässigen Fotografen zu suchen. Vielleicht hatte die Mordkommission, abgesehen vom Leichengeruch, doch ihr Gutes.
In der Linienstraße verschwanden die beiden Fotokünstler in der ehemaligen Damentoilette, die Schieck sich als Dunkelkammer gesichert hatte und zu der nur er einen Schlüssel besaß.
Kappe wusch sich in der Herrentoilette die Hände und kehrte an sein Schreibmöbel zurück. Alles schien unverändert, nur der Stuhl fehlte. Wortlos, doch voller Ingrimm griff Kappe Schiecks Hocker und ließ sich darauf nieder. In einer Stunde war Feierabend. Er war noch nicht mal dazu gekommen, seine mittägliche Scheibe Brot zu essen. Dass ihm der Magen knurrte, darauf achtete er schon gar nicht mehr. Er trank einen Schluck von Klaras lauer Kaffeeplörre und verzog angewidert das Gesicht. Mein Gott, was man sich alles freiwillig antat!
Während er sich bemühte, das Brot möglichst langsam und sorgfältig zu kauen, sichtete er seine Notizen über die aufgefundene Leiche, die inzwischen hoffentlich bei den Gerichtsmedizinern gelandet war. Vielleicht fanden die etwas Brauchbares heraus. Seine eigenen Erkenntnisse lohnten kaum das Aufschreiben:
Nach anonym eingegangenem Anruf beim Polizeirevier in Buch Auffinden einer unbekannten weiblichen Leiche unbekannter Herkunft und unbekannten Alters. Todeszeitpunkt und -ursache ungewiss. Verwertbare Spuren: bisher keine.
Jemand hatte ihm ein Blatt auf den Schreibtisch gelegt, eine Pressenotiz, die der Polizeipräsident herauszugeben gedachte: Rückgang der Morde in Berlin.
Die Zahl war im August 1946 erstaunlicherweise tatsächlich auf 11 gegenüber 24 im Juni und 14 im Juli gesunken. Sogar die Selbstmorde hatten sich von 175 auf 133 vermindert, und nur 99 Verkehrstote standen 177 aus dem Juni gegenüber.
Woran das wohl lag? Im Gegensatz zu seinem Präsidenten gab Kappe sich da keiner Illusion hin. Elf Morde in einem Monat waren wahrlich noch immer genug, und täglich mehr als drei Tote auf den Straßen reichten bei dem bescheidenen Verkehrsaufkommen allemal. Für einen Augenblick dachte er an den Potsdamer Platz, wie er ihn einst gekannt hatte. War das länger als ein Menschenleben her? Würde nicht ein weiteres Menschenleben vergehen, bis der Verkehr dort wieder so rege floss wie einst?
Ohne anzuklopfen, betrat jemand den Raum. Irritiert blickte Kappe auf, er vermochte das Gesicht des Mannes jedoch in dem schlechten Licht nicht