Highcliffe Moon - Seelenflüsterer. Susanne Stelzner
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Charlie und Tobey lümmelten sich mehr über- als nebeneinander auf einem plüschigen Sofa in der hintersten Ecke. »Hey, da bist du ja!«, rief Tobey mir entgegen. »Schön, dich in einem Stück wiederzusehen.«
»Ha, ha«, tat ich beleidigt.
Angesichts der enormen Schlange am Tresen verzichtete ich auf einen Kaffee und bat um einen Schluck von Charlies Wasser. Dann berichtete ich begeistert von meinen Eindrücken im Museum, hatte aber nicht das Gefühl, dass es sie rasend interessierte. Tobey streichelte Charlies Taille unter ihrem kurzen rosafarbenen Shirt und sie drängte sich wohlig seiner Hand entgegen und warf ihm immer wieder feurige Blicke zu. Ich kam zu dem Schluss, dass auch ihr Tag zufriedenstellend verlaufen war.
Gemeinsam machten wir im Sonnenschein den Spaziergang über die Brooklyn Bridge und ich kam endlich zu meinen Fotos von Manhattans Skyline. Eng umschlungen liefen die beiden vor mir her und warteten geduldig alle paar Schritte, bis ich alles im Kasten hatte. In Brooklyn schmissen Tobey und ich in einem gemütlichen Eck-Café noch ein paar Pancakes ein. Charlie bestellte nur einen Saft, um sich dann aber von Tobey mit einem guten Drittel seiner Portion füttern zu lassen, woraufhin ich ihm mitfühlend einen von meinen abtrat. Auf dem Rückweg statteten wir dem Pier 37 noch einen Besuch ab, aalten uns in Liegestühlen in der Sonne und tranken Eistee. Es war ein relaxter Tag und die Stadt wuchs mir mehr und mehr ans Herz.
Am späten Abend sprang Tobey ins Taxi, um seinen Flieger zu kriegen, und Charlies Laune sackte so drastisch ab, dass ich nichts dagegen hatte, nach einer solidarisch geteilten Mitternachtstrostpizza zurück ins Hotel zu fahren.
Ich schob es auf den fettigen Käse, dass ich in dieser Nacht einige Male wach wurde. Jedes Mal aber sah ich mich irritiert im Zimmer um, denn ich hatte das verrückte Gefühl, es wäre, außer der schlafenden Charlie, noch jemand da.
Wechselbad der Gefühle
Der schon recht warme Spätsommerwind dieses sonnigen Vormittages zerrte wild an meinen Haaren und ließ sie wie eine Fahne flattern, die hin und her peitscht, als wollte sie in die Freiheit entlassen werden. Ich ließ den Wind über meinen Hals streichen, in meine geöffnete Jacke gleiten, unter mein Shirt schlüpfen, bis er durch jede Faser meines Körpers zu dringen schien. Obwohl ich trotzdem ein wenig zu frösteln begann, hielt ich stand. Ich fühlte das pure Leben. Es erschien mir in diesem Moment so intensiv wie nie. Dieses Gefühl wollte ich nicht zerstören. Der Genuss war einfach größer. Dass ich mich in einer Höhe von über dreihundert Metern auf dem Empire State Building befand, steigerte meine Euphorie.
Mit den Händen auf der grauen Steinmauer der Besucherplattform abgestützt, wippte ich auf den Zehenspitzen und versuchte, dem Rausch der Tiefe zu widerstehen. Unter mir breitete sich die endlos erscheinende Stadt aus. Der Straßenlärm hatte sich zu einem einzigen, undefinierbaren, dumpfen Dauerton vereinigt, der fast etwas Hypnotisches hatte. So könnte ich ewig hier stehen, dachte ich. Ohne Scheu gurrte dicht neben mir, auf dem Stein hockend, eine Taube. Sie interessierte sich nicht für diesen unglaublichen Ausblick, sondern nur für die Sandwichkrümel der Touristen. Ich beneidete sie, als sie abhob und mit wenigen Flügelschlägen überaus elegante Flugmanöver ausführte. Offenbar war die Thermik hier sehr stark. Eine Weile noch folgte ich ihr mit den Augen, dann schloss ich sie und konzentrierte mich ganz auf das Gefühl, ein Teil dieses Universums zu sein. Hier, so weit oben über der Stadt, zu stehen, war ein erhabenes Gefühl. Ich fühlte mich stark und lebendig und glaubte voller Intensität daran, dass mir nichts und niemand in diesem Moment etwas anhaben könnte. Was, wenn ich die Schutzgitter überwinden und mich einfach fallen lassen würde … In Gedanken breitete ich meine Arme aus.
Dann würde ich dich auffangen, schien mir eine Stimme zuzuflüstern.
»Was?« Verwirrt drehte ich mich um.
Charlie hüpfte gut gelaunt auf mich zu. »Hey, Träumerin, können wir mal langsam weiter?«
»Äh … ja klar.«
Unsicher lauschte ich in mich hinein. Die Stimme war so deutlich gewesen. Aber Charlie konnte es nicht gewesen sein und auch niemand sonst stand so nah bei mir. Eine Bö schoss singend an meinem Ohr entlang und schleuderte mein Haar nach vorn. Es war nur der Wind, beruhigte ich mich. Kurz erschaudernd folgte ich Charlie zum Lift.
Er raste nach unten und spülte uns wieder auf die Straße, rein ins quirlige, lärmende New York. Ich blickte mich um und versuchte hoch oben die Plattform auszumachen, auf der wir eben noch gestanden hatten. Nachdem ich anfänglich fast eine Genickstarre bekommen hatte, schaffte ich es mittlerweile, die gewaltigen Wolkenkratzer als normale Kulisse zu betrachten. Die endlosen Straßenschluchten, die Hupkonzerte und die Menschenmassen, die sich selbst von einer roten Fußgängerampel nicht stoppen ließen, waren mir schnell vertraut geworden. Vergnügt stiefelten wir die Treppe hinunter in den Untergrund und sprangen in die nächste Bahn.
Konzentriert studierte Charlie den U-Bahn-Plan, um noch einmal die optimale Verbindung zu überprüfen. Sie murmelte etwas, aber ich hörte nicht mehr hin. Regungslos stand ich im Gang, eine Hand fest um die Haltestange gekrallt, die Augen starr geradeaus gerichtet.
Am anderen Ende unseres Waggons stand ein Junge, genauso regungslos wie ich, und diesmal sah er mich direkt an. Es war der Junge aus dem Museum. Ich hätte ihn überall wiedererkannt. Sofort war der Kloß im Hals wieder da. Sein ebenmäßiges Gesicht, mit diesen Augen, in die man eintauchen wollte, stach aus der Menge heraus wie ein helles Licht. Seine braunen, fast schulterlangen Haare waren perfekt ungeordnet. Er trug eine dunkle Jeans, die ihm eine gute Nummer zu groß war, und eine dunkelgraue Kapuzenjacke mit Reißverschluss, die er offen über einem hellgrauen T-Shirt mit V-Ausschnitt trug. Er war groß und irgendwie schlaksig, aber ich konnte die Konturen eines trainierten Körpers unter seinem T-Shirt erahnen.
Eine innere Unruhe, die ich so noch nie gespürt hatte, packte mich, als ob sämtliche Moleküle meines Körpers durcheinanderwirbelten und ihren Platz nicht mehr finden konnten. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Mist, dachte ich, man sieht es mir an, ich bin bestimmt knallrot im Gesicht. Sosehr ich mich bemühte, äußerlich cool zu wirken, während gigantische Tornados in meinem Innersten wirbelten, es war nahezu aussichtslos. Ich stand da wie gemeißelt und konnte meine Augen nicht in der vorgeschriebenen Zeit, die ein Desinteresse dokumentiert hätte, von diesem mich wieder magisch anziehenden Gesicht lösen.
Doch auch er schaute nicht weg. In meinem Kopf drehte sich alles. Warum lächelte ich nicht wenigstens, um die Peinlichkeit, ertappt worden zu sein, zu überspielen, mich dann wegzudrehen und noch einen würdevollen Abgang hinzulegen. Er wird bestimmt hundertfach von schmachtenden Blicken verfolgt, so wie er aussieht, sagte ich mir und ärgerte mich einen kurzen Moment, dass auch ich in seinem Netz zappelte. Vielleicht war er ja total arrogant und machte sich über all die entflammten Mädels lustig. Aber das sollte mir nicht passieren, die mit Stolz sagen konnte, nicht auf irgendwelche Schönlinge hereinzufallen oder ihnen jemals hinterherzugeiern. Sein Fangstrahl hatte mich dennoch fest im Griff. Es gelang mir nicht, wegzusehen. Meine Gedanken rasten durcheinander, während ich nur dastand und vergeblich versuchte, meine Gesichtszüge zu entkrampfen.
Merkwürdigerweise wirkte er jedoch überhaupt nicht überheblich, eher, als sei er sich seiner Schönheit gar nicht bewusst. Er schaute warm und freundlich mit offenem, festem, interessiertem Blick. Es schien, als ob sich sein Gesicht