Achtsamkeit für alle. Jon Kabat-Zinn

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Achtsamkeit für alle - Jon Kabat-Zinn

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so sehr viel kleiner ist als das volle Ausmaß unseres Seins. Und das ist für unser Land und für die Welt genauso wahr wie für uns als Individuen.

      Am Ende entspringen diese Einsichten (und die Lichtblicke, die sie begleiten können) aus der Kultivierung einer größeren Nähe und Vertrautheit mit Geist und Körper, Moment für Moment; aus dem Erkennen der wechselseitigen Verbundenheit der Dinge jenseits unseres Eindrucks, sie seien isoliert und unverbunden, und jenseits unserer Verblendung erzeugenden Fixierung auf die Vorstellung, sie zum eigenen engstirnigen Vorteil unter Kontrolle halten zu können.

      Unsere Ganzheit und wechselseitige Verbundenheit lässt sich in der Tat hier und jetzt, in ein und jedem Moment, dadurch verifizieren, dass wir aufwachen und erkennen: Wir und die Welt, die wir bewohnen, sind im tiefsten vorstellbaren Sinne nicht getrennt. Wie wir gesehen haben, gibt es viele Wege, diese Wachheit durch die systematische Übung der Achtsamkeit zu kultivieren und zu fördern. Alle eignen sich gut, uns zu einem umfassenderen Bewusstsein zu führen, was – in jedem Sinne dieses Begriffs – »Gesundheit des politischen Gemeinwesens« heißt, und dafür Verantwortung zu übernehmen.

      *

      Durch die Praxis der Achtsamkeit, in der wir üben, tief in uns selbst hineinzuschauen, haben wir eine größere Vertrautheit und Intimität mit dem entwickelt, was möglicherweise letzten Endes die Wurzel unseres Unbehagens und Leidens ist: die Dynamik der Geisteszustände von Gier, Hass und Ignoranz und wie sie sich auf unterschiedlichste Weise in der Welt manifestieren. Vielleicht sind wir auch so weit gelangt, dass wir ansatzweise sehen und spüren, wie jede(r) Einzelne auf eigene Weise wirksam dazu beitragen könnte, Leid zu verringern, Leid zu mildern, Leid zu transzendieren – das eigene und das von anderen – und dazu, die menschengemachten Leidens-Ursachen, wo immer möglich, innerlich und äußerlich mit der Wurzel auszureißen.

      Vielleicht ist uns inzwischen auch aufgegangen, dass wir kein vollkommen gesundes und friedliches Privatleben führen können, wenn wir in einer Welt leben, die selber krank und so unfriedlich ist; in der die Menschen einander und der Erde direkt und indirekt so viel Leid zufügen, vor allem aus Mangel an Verständnis für unsere wechselseitige Verbundenheit und oft, wie es scheint, aus Gleichgültigkeit, auch wenn wir es »eigentlich besser wissen«. Dies ist natürlich eine zutiefst menschliche Verhaltensweise, aber auch damit können wir arbeiten, wenn wir bereit sind, als Individuen und als Gesellschaft eine bestimmte Art von innerer Arbeit zu leisten. Selbst epidemische Engstirnigkeit ist veränderbar, wenn es uns zu erkennen gelingt, welchen potenziellen Wert es hat, anders leben und handeln zu lernen: mit größerem Bewusstsein für die wechselseitige Abhängigkeit und das Ineinander-Eingebettet-Sein von »Ich« und »den anderen«; für die wahren Bedürfnisse und die wahre Natur dieses »Ich« und dieser »anderen«; mit anderen Worten: wenn wir lernen können, die verzerrende Optik der eigenen Gier, der Angst, des Hasses und der Unbewusstheit schon zu erkennen, wenn sie ins Spiel kommt, und wir nicht zulassen, dass sie die tieferen und gesünderen Elemente unseres Wesens überschatten. All das kann sich ergeben, wenn wir bereit sind, unseren Schmerz und unser Leid als Individuen, als Nation und als Spezies mit Bewusstheit, Mitgefühl und einem gewissen Grad an Gelassenheit anzuschauen und auszuhalten; bereit, sie sprechen und neue Dimensionen wechselseitiger Verbundenheit offenbaren zu lassen, die unsere Einsicht in die Wurzeln des Leidens vertiefen und uns dazu drängen, unsere Empathie nicht zu beschränken auf die, die uns am nächsten stehen, sondern weiter auszudehnen. Das bedeutet, dass letztlich die Grundbedürfnisse der Menschen überall auf der Welt erfüllt sein müssen und sie frei sein müssen von Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Entwürdigung durch andere. Mit anderen Worten: Es bedeutet, dass die grundlegenden Menschenrechte aller Menschen überall gewahrt sein müssen. Wie wir wissen, ist das heute für den größten Teil der Menschheit auf diesem Planeten traurigerweise nicht der Fall, weder in meinem Heimatland noch weltweit.

      Nicht gänzlich abwegig als Beschreibung für die Wirkung unserer Spezies auf den Planeten Erde, aber auch auf unsere eigene Gesundheit und unser Wohlergehen als Spezies ist die Metapher der »Auto-Immunkrankheit«. Man könnte auch sagen, dass wir Menschen uns ständig selber im Weg stehen. Wir stolpern andauernd über Hindernisse, die wir uns trotz aller Klugheit unwissentlich selber in den Weg gelegt haben. In allen vier Bänden dieser Reihe weise ich darauf hin, dass das, was wir in der Medizin in den letzten vierzig Jahren über das Verhältnis von Geist und Körper und die potenzielle Heilkraft von Achtsamkeit/Herzerfülltheit gelernt haben, tiefgreifende Konsequenzen haben kann für die Art und Weise, wie wir das überwältigende »Un-Wohlsein«, unter dem der größere Körper unseres Landes und der größere Körper dieser einen Welt leiden, begreifen und behandeln können. Die Symptome dieses Un-Wohlseins springen uns aus Zeitungen, Fernsehnachrichten, Talkshows und sozialen Netzwerken Tag für Tag auf eine Weise an, die fassungslos macht, unsere Vorstellungskraft übersteigt und uns manchmal an unserem Verstand zweifeln lässt.

      Wie schon bei den anderen Aspekten dieser Erkundung – Achtsamkeit als Meditationsübung und als Seinsweise – untersuchen wir das Thema des politischen Gemeinwesens und seinen Bezug zur Achtsamkeit nicht mit dem Ziel, Meinungen zu ändern oder zu bekräftigen, weder die eigene noch die von anderen. Im Leben eine größere Achtsamkeit zu kultivieren bedeutet nicht, dass wir uns der einen oder anderen Ideologie oder Meinung verschreiben, so verlockend das bisweilen sein mag. Es bedeutet vielmehr, dass wir die Gelegenheit haben, die Dinge auf neue Art und Weise zu sehen, mit frischem Blick, Moment für Moment, mit den Augen der Ganzheit. Was Achtsamkeit für uns tun kann: unsere Meinungen, alle Meinungen als das zu enthüllen, was sie sind, nämlich Meinungen. Mit dieser Art von Erkenntnis werden wir sie als das sehen, was sie sind, sodass wir uns vielleicht nicht so sehr in sie verstricken und von ihnen blenden lassen, was immer ihr Inhalt sein mag, auch wenn wir uns manchmal ganz bewusst bestimmte Standpunkte zu eigen machen, sie mit kraftvoller Überzeugung vertreten und ihnen gemäß handeln. Achtsamkeit lädt in dieser Hinsicht dazu ein, in den Spiegel des eigenen Geistes zu schauen, die eigenen Fixierungen zu begreifen und bis dato unerkannte Möglichkeiten der Untersuchung und Heilung zu erkunden und vielleicht auch der Erweiterung unseres Horizonts, statt bei gewissen Themen lediglich reflexhaft und parteiisch in Zustimmung oder Ablehnung zu verfallen. Diese Haltung gegenüber dem Erleben der Realität, so wie sie ist, ist also auch eine Einladung, sozusagen »das Objektiv zu wechseln«, mit einer Rotation im Bewusstsein zu experimentieren, die vielleicht so groß ist wie die Welt, oder – oftmals zur selben Zeit – so nah wie dieser Moment und dieser Atemzug, in diesem Körper, in diesem Geist und in diesem Herzen, die Sie und ich und wir alle in die Landschaft des Jetzt einbringen (siehe Buch 2, Teil 1). Dies ist die Essenz und das Geschenk der formellen Meditationsübung und der Seinsweise, der Lebensweise, namens »Achtsamkeit«.

      Das Ziel hier ist auch, daran zu erinnern, dass Bewusstheit nichts Passives ist. In jedem Moment beeinflusst unser Bewusstseinszustand und alles, was ihm entspringt, die Welt. Wenn unser Tun aus dem Sein, aus dem Gewahr-Sein hervorgeht, ist es wahrscheinlich ein klügeres, freieres, kreativeres, fürsorglicheres Tun; ein Tun, das per se größere Weisheit, größeres Mitgefühl und mehr Heilung in der Welt und in Ihrem Herzen in Bewegung setzen kann. Das gezielte Engagement für Achtsamkeit in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft und im politischen Gemeinwesen, und sei es in der denkbar kleinsten Form, hat das Potenzial – da wir alle Zellen des einen Körpers dieser Welt sind – zu einem echten Aufblühen, zu einer echten Renaissance menschlicher Kreativität und menschlichen Potenzials zu führen, zur Manifestation einer tiefen Gesundheit als Spezies und als Welt. In vielen Bereichen passiert es bereits, in ganz kleinen Ansätzen (die irgendwie doch nicht so klein sind). Die Renaissance ist schon da.

      Wenn ich sage, dass es für die Welt von Nutzen sein kann, wenn wir alle mehr Verantwortung für ihr Wohlbefinden übernehmen und mehr Bewusstheit in das politische Gemeinwesen einbringen, dann soll das kein Rezept zu einer ganz bestimmten Therapie sein, mit der wir ein bestimmtes Problem in Ordnung bringen können, und es soll auch nicht die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, im Detail beschreiben und bestimmten Parteien, Individuen, Traditionen oder Denkweisen eine Schuld zuschreiben (so sehr der reflexhafte Impuls dazu in bestimmten Momenten aufkommen mag). Mein Bild der Situation soll vielmehr ein impressionistisches sein, so wie ein impressionistisches

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