Achtsamkeit für alle. Jon Kabat-Zinn
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Letzten Endes ist die Frage also: Können wir orthogonal denken?16 Ist es uns möglich, offenherziger zu sein, einladender, ohne dass es gleich unser Wohlbefinden und unsere Sicherheit bedroht? Ist es uns möglich, ein lebendes Beispiel für Mitgefühl zu sein? Können wir lebendige Weisheit verkörpern in der Art und Weise, wie wir auf Veränderungen und Unsicherheit und mögliche Bedrohungen unserer Identität als Individuen, als Land, als Spezies reagieren? Können wir klug sein? Dies sind heute die Herausforderungen, wenn es um die äußere Welt geht, genau wie bei der inneren Welt unseres Geistes und Herzens. Da innere und äußere Welt einander widerspiegeln, bieten sich uns zahllose Möglichkeiten, unser Verhältnis zu beiden zu gestalten und im Gegenzug von ihnen gestaltet zu werden. Vielleicht gibt es auch hier, für uns als Gesellschaft, die Möglichkeit, uns als Ankömmlinge an der eigenen Tür zu begrüßen und erneut den Fremden lieben, der dein Selbst gewesen ist (in den Worten von Derek Walcotts Gedicht Liebe für Liebe am Ende des dritten Bandes der Reihe).
Wir brauchen nur zurückzudenken an das Kippbild alte Frau/ junge Frau oder an das Kanizsa-Dreieck im ersten Band, um uns daran zu erinnern, dass wir sehr leicht nur bestimmte Aspekte der Dinge wahrnehmen oder etwas hartnäckig für real halten können, das eher eine Illusion ist als eine Tatsache. Und das sind sehr einfache Beispiele im Vergleich zu der fließenden Komplexität der Probleme und Situationen, mit denen wir es im Leben jeden Tag zu tun haben, ganz zu schweigen von den Problemen, denen sich unsere Länder und die Welt als Ganzes gegenübersehen. Uns allen passiert es nur allzu leicht, dass wir komplexe Situationen falsch wahrnehmen und an einer unvollständigen oder einseitigen Sichtweise festhalten, besonders wenn wir nicht aufmerksam darauf achten, wie wir sehen und wie wir wissen. Und so schließen wir vielleicht gedankenlos andere Dimensionen einer Thematik rundweg aus, die es eigentlich verdient hätten, als zumindest teilweise berechtigt anerkannt zu werden, bloß weil wir sie schlichtweg nicht sehen wollen. Diese Scheuklappen-Mentalität, dieses zumindest partiell blinde Festhalten an einer Interpretation von Ereignissen, die vielleicht nur zu einem gewissen Grad stimmt, wenn überhaupt, erzeugt Feindschaft und Leid – für uns und für andere. Könnten unsere Institutionen und unsere Politik nicht gesünder und klüger werden, wenn wir alle uns nur ein klein wenig darum kümmerten, das Feld des Bewusstseins innerlich und äußerlich so auszuweiten, dass wir zumindest zu einem gewissen Grad in Betracht ziehen könnten, dass Formen des Wissens, Sehens und Seins, die grundsätzlich anders sind als unsere, auch ihre Berechtigung haben?
Was für Meinungen auch immer Sie vertreten oder nicht vertreten, seien sie politischer, religiöser, ökonomischer, kultureller, historischer oder sozialer Natur, oder einfach nur Positionen, die Sie in der Familie zu den verschiedenen Themen beziehen, die jeden Tag aufkommen – Sie könnten einen Augenblick auch all denen Beachtung schenken, die eine diametral entgegengesetzte Meinung vertreten. Sind sie denn alle auf dem Holzweg? Oder sind sie »schlechte Menschen«? Gibt es in uns womöglich die Tendenz, andere zu entmenschlichen, sie in eine Schublade zu stecken, sie vielleicht sogar zu dämonisieren? Finden Sie in sich eine Tendenz, Verallgemeinerungen über »sie« anzustellen und Pauschalurteile über »sie« und »ihren Charakter« oder ihre Intelligenz oder gar über ihre Menschlichkeit zu fällen? Wenn wir anfangen, auf diese Weise auf das zu achten, was in unserem Kopf passiert – unsere Gedanken schlichtweg als Gedanken zu sehen, unsere Meinungen als bloße Meinungen, unsere Emotionen als Emotionen –, dann stellen wir vielleicht ganz schnell fest, dass dieses Generalisieren und Auf-einen-Haufen-Werfen uns sogar mit Menschen passiert, mit denen wir zusammenleben und die wir lieben. Das ist der Grund, warum die Familie gewöhnlich so ein wunderbares (und manchmal auch wahnsinnig machendes) Labor für die Erzeugung von größerem Gewahrsein, von mehr Mitgefühl und Weisheit ist und die Chance bietet, diese Tugenden im Alltagsleben tatsächlich umzusetzen und zu verkörpern. Denn wenn wir uns plötzlich in der Situation wiederfinden, in der wir eisern an der Überzeugung festhalten, dass wir Recht und die anderen Unrecht haben, dann kann das, selbst wenn es in großem Maße zutreffen sollte und sehr wichtige Dinge auf dem Spiel stehen (oder wir das zumindest meinen und auf Biegen und Brechen darauf beharren), unsere Wahrnehmung verzerren: Wir riskieren, der Verblendung anheimzufallen, und dem, was ist. Wir riskieren, der Eigentlichkeit der Dinge und der Beziehungen, in denen wir uns befinden, in einem gewissen Ausmaß Gewalt anzutun, jenseits aller »objektiven« Gültigkeit der einen oder der anderen Position. Wenn ich meinen eigenen Geist prüfe, dann muss ich zugeben, dass ich selbst jeden Tag zu all diesen Dingen neige und auf sie achtgeben muss, damit ich nicht in großem Stil verdumme. Und ich denke, dass ich in dieser Hinsicht nicht der Einzige bin.
Wenn nur ein klein wenig davon im Spiel ist – und das Gleiche läuft aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei denen ab, die gegenteiliger Meinung sind als Sie, wenn diese Menschen an Sie denken und »alle Gleichgesinnten« –, ist es in dieser Situation dann auch nur im entferntesten wahrscheinlich, dass irgendjemand begreift, was in Wirklichkeit vor sich geht? Begreift, dass es möglich wäre, zumindest ein paar Gemeinsamkeiten, identische Interessen, eine größere Wahrheit anzuerkennen? Oder hat die Art, wie wir sehen und denken, die Situation, das Thema oder die Tagesordnung dermaßen polarisiert und uns so blind gemacht, dass es nicht mehr möglich ist, die Dinge so zu sehen und zu erkennen, wie sie wirklich sind? Oder uns daran zu erinnern, dass wir es eigentlich nicht wissen und in diesem Nicht-Wissen eine riesige kreative und potenziell heilende Kraft liegt? Das ist nicht Ignoranz, und es ist auch nicht ignorant. Es ist mitfühlend. Es ist klug. Das Wissen, dass wir es nicht wissen, ist kraftvoller und heilsamer, als aus schierer Angst Mauern zu bauen oder mit dem Finger auf andere zu zeigen oder Vorwände für einen Krieg zu suchen oder endlos neue Feindbilder zu schaffen.
Zu wissen, dass wir es nicht wissen (oder gewöhnlich nur teilweise wissen), kann zu enormen Lichtblicken im Herzen und im Geist führen und zu Potenzialen orthogonaler Art, die ansonsten nicht möglich wären. Erinnern Sie sich, was der koreanische Zen-Meister Soen Sa Nim (Bände 1 und 3) mit Leuten machte, die an irgendeiner Position festhielten. »Wenn Sie sagen, dies sei ein Stock oder eine Uhr oder ein Tisch, eine gute Situation oder eine schlechte Situation oder die Wahrheit, dann gebe ich Ihnen dreißig Schläge (metaphorisch natürlich – er hat nie jemanden geschlagen). Und wenn Sie sagen, dies sei kein Stock, keine Uhr, kein Tisch, keine gute Situation oder keine schlechte Situation oder die Wahrheit, dann gebe ich Ihnen dreißig Schläge. Was tun Sie?«
Bedenken Sie: Er erinnert uns eigentlich daran, aus diesem Schwarz-Weiß-Denken, diesem Freund-Feind-Denken, diesem ständigen »Ist es gut oder schlecht?« aufzuwachen. Es war ein Akt des Mitgefühls, uns in diese Zwickmühle zu bringen oder uns aufzuzeigen, dass wir das ja dauernd selber tun.
Ja, was tun? Was tun? Sollen wir die Dinge denn nicht beim Namen nennen? Was ist mit Völkermord, Mord, Ausbeutung, Wirtschaftskriminalität, politischer Korruption, institutionalisierten Strategien der Täuschung (im Internet und anderswo), strukturellem Rassismus und Ungerechtigkeit? Ja, natürlich können wir die Dinge beim Namen nennen, und manchmal haben wir sogar die moralische Pflicht, aufzustehen und sie zu benennen, wenn wir tatsächlich Bescheid wissen. Aber wenn Sie Bescheid wissen, wenn Sie die fragliche Sache wirklich klar sehen und nicht einfach an einem Vorurteil festhalten, dann werden Sie auch sofort sehen, dass es vielleicht nicht das Einzige oder Wichtigste ist, das Ding beim Namen zu nennen, besonders wenn das alles ist, was Sie tun. Es könnte etwas geben, das in dieser Situation angemessener ist, als nur einen Begriff oder ein Etikett hinzustellen, ganz gleich, wie wichtig es ist, aufzustehen und das, was geschieht, beim Namen zu nennen – und es ist extrem wichtig. Es kann auch zwingend notwendig sein, zu handeln, und zwar klug zu handeln, um einen konkreten, lebendigen Weg zu finden, auf dem man