Achtsamkeit für alle. Jon Kabat-Zinn
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»Wir müssen keine großartigen heroischen Taten vollbringen, um am Prozess des Wandels mitzuwirken. Kleine Handlungen, wenn sie sich durch Millionen von Menschen multiplizieren, können die Welt verwandeln. In schlimmen Zeiten Hoffnung zu haben ist keine naive Romantik. Es beruht auf der Tatsache, dass die Geschichte des Menschen nicht nur eine Geschichte der Grausamkeit ist, sondern auch eine von Mitgefühl, Opferbereitschaft, Mut, Güte. Unsere Entscheidung, worauf wir in dieser komplexen Geschichte Wert legen wollen, wird unser Leben bestimmen. Wenn wir nur das Schlimmste sehen, zerstört das unsere Fähigkeit, etwas zu unternehmen. Wenn wir uns an die Zeiten und Orte erinnern – von denen es so viele gibt! –, an denen Menschen sich hervorragend verhalten haben, gibt uns das die Energie zum Handeln und zumindest die Chance, diese dahintaumelnde Welt in eine andere Richtung zu lenken.
Und wenn wir tatsächlich handeln, so klein unsere Geste auch sein mag, müssen wir nicht auf die große utopische Zukunft warten. Die Zukunft ist eine unendliche Folge von Gegenwarten, und jetzt so zu leben, wie wir denken, dass menschliche Wesen leben sollten, allem Schlechten um uns herum zum Trotz: Das ist an sich schon ein wunderbarer Sieg.«15
*
Möge Ihre Achtsamkeitspraxis wachsen und blühen und Ihr Leben, Ihre Arbeit, Ihre Berufung auf dieser Welt Moment für Moment, Tag für Tag bereichern. Möge die Schönheit der Welt Sie in guten und in schlechten Zeiten tragen und Sie daran erinnern, wer Sie wirklich wirklich wirklich wirklich sind, und was lebendig zu halten und zum Blühen zu bringen am wichtigsten ist, solange man die Möglichkeit dazu hat.
Mögen Sie in Schönheit wandeln, wie die Navajos zu sagen pflegen, und mögen Sie erkennen, dass Sie es bereits tun – und immer getan haben. Und mögen Sie unterwegs das pflegen, was in der Welt gepflegt werden muss, mit sorgsamer Güte.
Jon Kabat-Zinn
Northampton, Massachusetts
26. Oktober 2018
1 Homo sapiens sapiens: Die Spezies, die Bewusstsein besitzt und sich dessen bewusst ist; aus dem lateinischen »sapere«, »schmecken« oder »wissen« (vgl. auch Band 1 dieser Reihe: »Meditation ist nicht, was Sie denken«, Seite 221).
2 Wenn Sie das Wort »Dharma« nicht kennen, vgl. Sie Band 1, »Meditation ist nicht, was Sie denken«, Kapitel »Dharma«, Seite 206.
3 Yuval Noah Harari, »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert«. München: C.H. Beck Verlag, 2018.
4 https://en.wikipedia.org/wiki/Yuval_Noah_Harari.
5 Ders., »Eine kurze Geschichte der Menschheit«. München: dva 2013.
6 Ders., »Homo Deus. Eine Geschichte von morgen«. München: C.H. Beck Verlag, 2017.
7 Etwas paradox, weil Achtsamkeit ja so viel mehr ist als Denken und orthogonal dazu verläuft. Bewusstheit und Denken schließen sich natürlich gegenseitig nicht aus und können einander, richtig verstanden, enorm ergänzen und bereichern. »Orthogonal« heißt in diesem Kontext, dass Achtsamkeit oder Bewusstheit eine unabhängige Dimension oder ein Bereich ist, zur gleichen Zeit relevant wie das Denken und fähig, einen anderen Standpunkt zu liefern, der alles Denken beinhalten kann. Mehr zum Thema »Orthogonalität« im Buch 3, »Das heilsame Potenzial der Achtsamkeit«, Seite 69 – 87.
8 Siehe Band 1, S. 257ff: »Leere«.
9 Im Original der Neologismus heartfulness analog zu mindfulness. Mindful ist »achtsam«, und dieses hat mit -sam eine Sprachwurzel, die bedeutet, dass »die Person oder Sache von etwas erfüllt ist«, deshalb: »Herzerfülltheit«. (Anm. d. Übers.)
10 »kindfulness« analog zu »mindfulness«. Im Deutschen gibt es dafür m.E. kein gut funktionierendes Wortspiel. (Anm. d. Übers.)
11 Und vielleicht ist es, aufgrund epigenetischer Signalwege, auch ein biologischer Evolutionsprozess.
12 Siehe z. B. MacLean, Nancy, Democracy in Chains. The Deep History of the Radical Right’s Stealth Plan for America. New York, NY: Viking, 2017. Ebenso: Chomsky, Noam, Chomsky on Mis-Education. Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 2000.
13 Siehe: Rosling, Hans, Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin: Ullstein Verlag, 2018. Pinker, Steven, Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 2018.
14 Vgl. Band 3 dafür, wie entscheidend diese dabei sein kann, unsere persönliche Lebensweise wieder zu finden, sie zu heilen und weiterzuentwickeln.
15 Zinn, Howard, Schweigen heißt Lügen: Autobiografie. Hamburg: Edition Nautilus, 2010. Siehe auch das Zinn Education Project (ZEP): https://www.zinnedproject.org/.
Teil 1
Die Heilung des politischen Gemeinwesens
Die beste Form der Macht ist Liebe,die die Forderungen der Gerechtigkeitverwirklicht, und die beste Form derGerechtigkeit ist Macht, die alles korrigiert,was der Liebe im Weg steht.
MARTIN LUTHER KING
Die Heilung des politischen Gemeinwesens
Alles, worüber wir in den ersten drei Bänden dieser Reihe, im Laufe unserer Erkundung der Achtsamkeit auf der persönlichen Ebene, gesprochen haben, trifft genauso gut auf unser Verhalten als Land und als Spezies in der Welt zu. Schauen Sie sich irgendein aktuelles Ereignis an. Wissen wir eigentlich, was wirklich vor sich geht? Oder bilden wir uns einfach eine Meinung, die auf unserem Ver- oder Misstrauen gegenüber bestimmten Nachrichtenkanälen beruht, auf reflexartigen Vorlieben und Abneigungen, die uns dazu bringen, uns bestimmte Narrative zu eigen zu machen und andere schnurstracks zurückzuweisen, was uns im Freund-Feind-Denken gefangenhält, in Vorlieben und Abneigungen, darin, dass wir uns gewisse Dinge wünschen und andere fürchten, gefangen in der oberflächlichen Erscheinung der Dinge oder darin, dass wir uns lediglich vorstellen, was unter der Oberfläche geschieht, ohne es, wenn man es genau nimmt, wirklich zu wissen?
Hier kommt die Herausforderung: Können wir die nichtduale Perspektive des achtsamen Gewahrseins auf das anwenden, was in der Welt vor sich geht, und darauf, wie wir als integrale Einheit (Zelle) des politischen Gemeinwesens, das unsere Gesellschaft und unser Land darstellt, mit der Welt interagieren (egal, in welchem Land wir wohnen oder mit welchem wir uns identifizieren)? Können wir zum Beispiel, wenn es um »die Nachrichten« geht, dem, was sich unseren Sinnen darbietet, mit Achtsamkeit begegnen und unser Unterscheidungsvermögen und Nicht-Wissen mobilisieren? Können wir uns jener großen oder kleinen Ereignisse bewusst sein, die sich früher oder später in unterschiedlichem Maße auf unser privates persönliches Leben auswirken werden, die aber meistens weit entfernt von unserer direkten Erfahrung und dem, was im täglichen Leben passiert, ablaufen (bis sie uns betreffen, natürlich)? Und wenn sie uns dann betreffen: Können wir den Momenten bewusst begegnen, in denen wir uns plötzlich direkt oder indirekt von Kräften überrollt und in Mitleidenschaft gezogen sehen, die wir nicht vollständig verstanden haben, ob sie nun in erster