Achtsamkeit für alle. Jon Kabat-Zinn

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Achtsamkeit für alle - Jon Kabat-Zinn

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Benennen oder gar Beschimpfen hinausgeht oder darüber, lediglich mit Gleichgesinnten einer Meinung zu sein.

      Wenn es im wörtlichen Sinne um »Dinge« ginge, die beim Namen zu nennen sind, wäre es wohl angemessen, sie in die Hand zu nehmen, etwas mit ihnen zu arbeiten und andere dazu zu bringen, mitzumachen. In jedem Moment so zu handeln, dass unsere Erkenntnis leibhaftig zum Ausdruck kommt, wäre das Beste, was wir in jedem Moment tun können, und auf diese Weise würden wir uns schrittweise in Richtung Weisheit bewegen, wenn wir bereit wären, aus den Konsequenzen unserer Handlungen zu lernen. Alles andere kann sehr schnell zu leerem Gerede werden. Der Politiker, der sich um ein Amt bewirbt, nennt die Dinge beim Namen und sagt, es müsse etwas geschehen. Doch wie kommt es, dass seine (oder ihre) Ansichten über diese »Dinge« sich so schnell und so radikal ändern, sobald er oder sie im Amt ist? Metaphorisch gesprochen, ist dieses jeweilige »Ding« oder Thema immer noch da. Oder war es im Moment der Wahlkampfrede nur deshalb ein Thema, weil es ihr gerade in den Kram passte und es ein nützliches Werkzeug zu einem ganz anderen Zweck war?

      Bertrand Russell paraphrasierend könnte man sagen, dass die Menschen gelernt haben, durch die Luft zu fliegen und in die Tiefen des Meeres hinabzutauchen. Aber wir haben noch nicht gelernt, auf dem Festland zu leben. Die letzte Herausforderung für uns ist nicht der Ozean oder der Weltraum, so interessant und verlockend sie auch sein mögen. Die letzte, die wichtigste und dringlichste Herausforderung für uns sind der menschliche Geist und das menschliche Herz. Sie besteht darin, dass wir uns selbst erkennen, und zwar, am allerwichtigsten, von innen her! Die letzte Herausforderung ist eigentlich das Bewusstsein selbst. In ihr kommt alles zusammen, was wir wissen, alle Weisheitstraditionen aller Völker auf diesem Planeten, einschließlich all der verschiedenen Arten des Wissens – durch Wissenschaft, Kunst, alte Stammeskulturen, durch meditatives Erforschen, durch lebendig-konkrete Achtsamkeitpraktiken. Das ist die Herausforderung unserer Ära und unserer Spezies, heute, da wir weltweit auf so viele Arten miteinander vernetzt sind, dass das, was in Helsinki oder Moskau oder in Tweets aus dem Weißen Haus passiert, was in Brüssel oder Bagdad oder Kuala Lumpur passiert, oder in Mexiko-Stadt oder New York oder Washington oder Kabul oder Peking oder sonstwo, schon am nächsten Tag oder im nächsten Monat das Leben der Menschen praktisch überall und allerorten auf der Welt zutiefst beeinflussen kann. Und damit ist noch nichts über die massive Zersplitterungen gesagt, die ständig die Demokratie selbst bedrohen: die Ideale echter Inklusion und Gleichheit vor dem Gesetz, die dafür sorgen sollen, dass alle »Zellen« des politischen Gemeinwesens dieselbe »Blutversorgung« haben. Es ist das exakte Gegenteil davon, den Kopf in den Sand zu stecken und sich nur um die eigenen, eng definierten Interessen zu kümmern, die Maximierung der eigenen Sicherheit oder Zufriedenheit oder Vermögenslage. Vielmehr ist es so, dass dieses ganze Unternehmen namens Achtsamkeit und das Erforschen der Möglichkeiten, uns selbst und die Welt zu heilen, einen Weg bietet, uns sozusagen von Zeit zu Zeit in diesem »Wald« umzuschauen und seine Fülle direkt zu spüren, statt den »Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen« und sich in Einzelheiten von Bäumen und Ästen zu verlieren, so wichtig diese Einzelheiten auch sein mögen. Es erinnert uns daran, dass die verzerrende Optik engstirniger und unhinterfragter Gedanken und Meinungen – gewöhnlich getrieben von Angst, Gier, Hass und Verblendung in unterschiedlichem Ausmaß, und natürlich von einem endemischen Stammesdenken, dem jahrtausendealten Instinkt, die Welt in Freund und Feind zu unterteilen, heutzutage ausgebrütet und angeheizt von Privatsendern und sozialen Netzwerken, zu denen böswillige Aktivitäten im Internet gehören, oft Bots, sowie die übermächtige Tendenz auf allen Seiten, echte Beweise zu missachten – dass diese verzerrende Optik eine ungeheure Falle ist, die uns hindert, neue Lichtblicke und Chancen zu sehen.

      Das soll nicht heißen, dass es keinen Platz gibt für Meinungen und leidenschaftlich vertretene Ansichten. Es ist nur so: Je mehr diese Ansichten die gegenseitige Durchdringung der Dinge auf der Mikro- und auf der Makro-Ebene berücksichtigen, desto größer wird auch unsere Fähigkeit, mit der Welt, mit unserer Arbeit, unserer Sehnsucht und unserer Berufung auf eine Art und Weise umzugehen, die zu mehr Weisheit und Harmonie beiträgt, nicht zu mehr Streit, Elend und Unsicherheit.

      Heute haben wir, mehr als jemals zuvor, praktisch an allen Fronten sowohl individuell als auch kollektiv die unschätzbar wertvolle Gelegenheit wie auch die Werkzeuge, uns nicht in gedankenlosem Egoismus und destruktiven Gefühlen zu verrennen und uns von ihnen blenden zu lassen, sondern buchstäblich zur »Be-Sinnung« zu kommen. Wenn wir das tun, werden wir vielleicht aufwachen und das tiefe Unbehagen erkennen, das während der vergangenen zehntausend Jahre Menschheitsgeschichte zum chronischen (Krankheits-)Zustand der Welt und unserer Spezies geworden ist. Wir werden praktische Schritte unternehmen, um neue Wege des Gleichgewichts und der Harmonie in der Art und Weise, wie wir unser Leben als Individuen führen und die Beziehungen zwischen den Nationen gestalten, ins Auge zu fassen und aufzubauen: Wege, die dazu beitragen, unsere destruktiven Tendenzen und gelegentlich schiere Widerwärtigkeit (Geisteszustände, die nur Unwohlsein und Entfremdung im Inneren und im Äußeren stärken) zu erkennen und zu reduzieren, und die andererseits unsere Fähigkeit zur Mobilisierung und Verkörperung von Weisheit und Mitgefühl in den Entscheidungen, die wir von Moment zu Moment darüber treffen, wie wir leben müssen und was wir mit unseren kreativen Energien zur Heilung des politischen Gemeinwesens tun könnten, vergrößern.

      *

      Wir haben in diesen vier Bänden die Metaphern von Krankheit und »Un-Wohlsein« erforscht, in dem Versuch, die tiefere Natur unserer Beunruhigung über dieses Menschendasein aus verschiedenen Blickwinkeln zu definieren und zu verstehen und warum wir uns so oft dermaßen »daneben« fühlen, so voller Verlangen nach etwas, das uns zu unserer Ganzheit und Erfüllung zu fehlen scheint, obwohl es uns in den entwickelten Ländern (und was das angeht, auch in denen, die einmal »Entwicklungsländer« genannt wurden) doch materiell und in Bezug auf Bildung und viele andere Faktoren wesentlich besser geht, als es der überwiegenden Mehrheit der Menschheit in den Generationen vor uns jemals gegangen ist.17 Wenn ein relativ hoher Lebensstandard, materieller Reichtum und Überfluss und selbst bessere Gesundheit und Gesundheitsfürsorge als je zuvor in der Geschichte uns nicht genügen, um glücklich, zufrieden und innerlich mit uns im Reinen zu sein, was könnte es dann sein, was uns noch fehlt? Und was müssten wir tun, damit wir schätzen lernen, wer wir sind und was wir bereits haben? Und was sagt unsere Unzufriedenheit über uns selbst als Land, als Welt, als Spezies aus, das zu wissen uns helfen könnte? Wie könnten wir aufhören, uns selber fremd zu sein, und heimkommen in das, was wir in all unserer Fülle eigentlich sind? Wie könnten wir unsere wahre Natur und unser wahres Potenzial als menschliche Wesen erkennen und lebendig verkörpern?

      Wir könnten für einen Moment nach innen schauen und uns fragen, was nötig wäre, damit wir uns als Individuen innerhalb des politischen Gemeinwesens genau jetzt vollständig ganz und glücklich fühlen könnten, wo wir doch, wie wir durch die Schulung in Achtsamkeit immer wieder gesehen haben, genau in diesem Moment schon unleugbar ganz und vollständig sind? Eines, das nötig sein könnte, ist, herauszutreten aus diesem Leben, das wir die meiste Zeit im Kopf führen, wo wir in Gedanken und Wünschen und die Turbulenzen reaktiver Gefühle und Abhängigkeiten verstrickt sind, sei es nun Abhängigkeit vom Essen (die Fettleibigkeits-Epidemie) oder von Schmerzbetäubung (die Opioid-Epidemie) oder von irgendetwas anderem. Letzten Endes scheinen wir gefangen in unseren endlosen und oft verzweifelten Versuchen, die äußeren Umstände, Ursachen und Bedingungen so zu arrangieren, dass sie, wie wir immer hoffen, schließlich zu einer besseren Situation führen werden, in der wir, wie wir glauben, endlich allen Schmerz werden auslöschen und glücklich und in Frieden werden leben können.

      Hinter all dem erkennen wir vielleicht unsere gewohnheitsmäßige, verführerische, aber letztlich deplatzierte Besessenheit von der bemerkenswert dauerhaften Idee eines seltsam ungreifbaren, festen, beständigen, unveränderlichen persönlichen Ichs. Dieses nebulose Gefühl eines festgefügten Ichs wird, wenn es mit der Lupe der Achtsamkeit untersucht wird, leicht als ziemlich illusionär erkannt. Im tiefsten Herzen wissen wir das alle, glaube ich. Und doch scheint uns diese fixe Idee eines beständigen, festen Ichs (und die daraus resultierende Ichbezogenheit) ständig in Bann zu schlagen und auf der Suche nach Erfüllung seiner anscheinend endlosen Bedürfnisse und

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