Achtsamkeit für alle. Jon Kabat-Zinn
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Es ist auch eine Einladung, sich allmählich neue Metaphern auszudenken, um uns selbst und unseren Platz in der Welt zu begreifen und die wahre Komplexität der realen Welt zu würdigen, ohne die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass der menschliche Geist in großem Maße viele der Probleme, denen wir uns heute als Land und als Spezies gegenübersehen, erzeugt oder, wie man sagen könnte, fabriziert und wuchern lassen hat; und dass diese Probleme, wie alles andere auch, nicht so dauerhaft, beständig oder real sind, wie unser Geist es sich ausmalt. Schon allein diese Einsicht kann uns neue und einfallsreiche Wege zum Umgang mit dem bescheren, was oft nach unlösbaren Problemen und unbesiegbaren Feinden aussieht. Es könnte sinnvoll sein, sich hier an zwei berühmte Kommentare von Albert Einstein zu erinnern. Der erste besagt: »Die Realität ist bloß eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige.« Und der zweite: »Die Probleme, die es heute auf der Welt gibt, lassen sich nicht mit der Denkweise lösen, die sie erzeugt hat.« Es lohnt sich, diese beiden Beobachtungen im Gedächtnis zu behalten, während wir im vollen Bewusstsein der Totalkatastrophe, die die Situation des Menschen darstellt, Achtsamkeit kultivieren.
Wir könnten sagen, dass der menschliche Geist die Vorstellung einer »realen Welt« (und der Einschränkungen, die wir uns selbst auferlegen, wenn wir an diese Welt und was darin möglich ist, denken) genauso fabriziert hat, wie er die verdinglichte Vorstellung eines dauerhaften Ich konstruiert. Wenn wir untersuchen und uns klar bewusst werden, wie der Geist sowohl uns selbst als auch das, was wir die Welt nennen, wahrnimmt, auffasst und begreift, dann können viele der illusorischen und selbst auferlegten Einschränkungen sich auflösen, während wir neue Wege des Handelns finden, die auf dieser Rotation des Bewusstseins beruhen.
Die Einzelheiten werden sich aus unserer fortdauernden Praxis ergeben, während wir Tag für Tag unser Leben führen. Eine reine Macher-Mentalität, die lediglich die Dinge in Ordnung bringen und wieder zurechtrücken will, indem sie der Welt eine ganz bestimmte »Lösung« oder Reform, von der wir überzeugt sind, vorschreibt, ist per se wahrscheinlich wenig hilfreich, so wichtig solche Bemühungen auch sein mögen. Eine umfassendere Heilung unserer ganzen Art und Weise des Sehens und Seins ist ebenfalls nötig. Dies verlangt eine Wendung im Bewusstsein sehr vieler Menschen – eigentlich von uns allen – auf breiter Basis und eine Bereitschaft, die Dinge anzuerkennen, wie sie sind, und auf kreative und orthogonale Weise mit ihnen zu arbeiten, wobei wir all die unerschöpflichen Ressourcen und Kenntnisse nutzen, die uns innerlich und äußerlich heute zur Verfügung stehen. Statt auf einen einzigartigen »Erlöser« in Form eines charismatischen Führers zu hoffen, der es für uns richten und der uns »den Weg weisen« wird, sollten wir einsehen, dass unsere Spezies vielleicht einen Punkt in der Evolution erreicht hat, an dem wir Menschen das historische Muster heroischer, faszinierender Persönlichkeiten (ganz gleich, wie herausragend sie im Guten oder Schlechten sein mögen) hinter uns lassen und Wege werden finden müssen, um Verantwortung und Führungsfunktionen breiter und kooperativer zu streuen: so, wie ja auch Herz und Leber und Gehirn nicht miteinander um die Vorherrschaft über den Organismus streiten, sondern für das nahtlose Wohlergehen des Ganzen zusammenarbeiten, und so, wie es die Billionen einzelner Zellen tun, die zusammen einen gesunden menschlichen Körper ausmachen.
Konfrontiert mit der Grund-Diagnose namens Dukkha (siehe Band 1) mit ihren verschiedenen Bedeutungen und Konnotationen – wir könnten alternativ auch »Welt-Stress« sagen – und mit dem Verständnis einiger Grundursachen für Dukkha können wir hier, wenn es überhaupt ein Rezept gibt, zur Behandlung unserer gegenwärtigen Situation als Spezies nur mit einem ganz allgemeinen Rezept aufwarten: dass, so seltsam das klingen mag, sich jede(r), der/die sich betroffen fühlt von dem Dilemma, mit dem wir uns als Spezies und als Gesellschaft konfrontiert sehen, um die Kultivierung von größerer Achtsamkeit bemüht, als Übung und als Lebensweise; dass wir Achtsamkeit sanft und elegant in jeden Aspekt unseres Lebens und unserer Arbeit einbringen, ohne zu wissen oder wissen zu müssen, was dabei herauskommt, wer auch immer wir sind, was auch immer unsere Arbeit und unsere Berufung sein mag; und dass wir, diese Achtsamkeit so gut wie möglich praktizieren und leibhaftig verkörpern, individuell und kollektiv, als hinge unser eigenes Leben und das der Welt davon ab.
Denn wie wir von Moment zu Moment entscheiden, wie wir leben und handeln wollen, das beeinflusst die Welt ein klein wenig, kann aber trotzdem in ungleich größerem Maße von Nutzen sein, wenn die Motivation, der unsere Entscheidungen entspringen, gesund und ethisch positiv ist und die Handlungen selbst klug und mitfühlend sind. Auf diese Weise kann sich die Heilung des politischen Gemeinwesens ohne strenge Kontrolle oder Anleitung entwickeln: durch das selbstständige und gleichzeitig interdependente Tätigwerden und die Bemühungen vieler verschiedener Menschen und Institutionen, mit vielen verschiedenen und reichhaltigen Perspektiven, Zielen und Interessen, aber auch mit einem gemeinsamen und potenziell verbindenden Interesse, nämlich dass es der Welt besser gehen soll. Das ist es, was Politik im besten Falle fördert und bewahrt.
Natürlich wird nicht jede(r) mit der Praxis der Achtsamkeit beginnen, weder kurzfristig noch langfristig. Aber Stück für Stück wächst, wie es nun schon seit Jahren geschieht, die Zahl und der potenzielle Einfluss derer, die auf vielen verschlungenen, überraschenden – und bis dato oft schlichtweg unvorstellbaren – Pfaden dazu gelangen, diesen Weg zu größerer geistiger Gesundheit und Weisheit zu wählen. In den kommenden Generationen, oder sagen wir in den kommenden Jahrhunderten (und auch gerade jetzt im Moment …) haben wir die bemerkenswerte Gelegenheit, als einzelne Menschen, als Nation und als Spezies das volle Potenzial unserer Kreativität und Klarsicht zu verwirklichen und diese in den Dienst der Ganzheit, der Heilung und der Inklusivität zu stellen. Wir können sie in den Dienst derjenigen stellen, von denen wir alle behaupten, dass wir sie uns am meisten wünschen und dass sie uns die größte Chance geben würden, uns sicher und glücklich zu fühlen: Gerechtigkeit, Mitgefühl, Fairness, Freiheit von Unterdrückung, die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten für alle, ein gutes, erfülltes Leben zu führen, und damit also Frieden, guter Wille und Liebe – nicht nur für uns selbst oder für die, mit denen wir uns identifizieren, sondern für alle menschlichen Wesen, ja für alle fühlenden Wesen, mit denen wir auf so vielfältige, Leben spendende und Leben bewahrende Weise unauflöslich verbunden sind.
Wir stehen sozusagen auf einem Gipfelpunkt in der Entfaltung der Geschichte, an einem bedeutsamen Wendepunkt. Sei es nun revolutionär oder evolutionär oder beides: Die Zeit, in der wir leben, bietet einzigartige Gelegenheiten, die wir mit jedem Atemzug ergreifen und nutzen können. Es gibt nur einen Weg, das zu tun: dass wir in unserem Leben, wie es sich hier und jetzt entfaltet, unsere tiefsten Werte und unsere Einsicht, was das Allerwichtigste ist, lebendig verkörpern – und das mit anderen teilen in dem Vertrauen, dass solch lebendiges Handeln, selbst in den kleinsten Kleinigkeiten, die Welt mit der Zeit zu größerer Weisheit und Gesundheit und Vernunft hinlenken wird.
Das ist ein ganz schönes Stück Arbeit. Aber, wie gesagt – und das gilt für jede(n): Was sonst könnten wir mit diesem einen, wilden und kostbaren Leben Sinnvolles anfangen?
16 Siehe Band 3, Teil 1.
17 Vgl. Rosling, Hans, Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin: Ullstein Verlag, 2018 (orig. ders., Factfulness: Ten Reasons Were Wrong About the World – And Why Things Are Better Than You Think. London: Hodder & Stoughton General Division, 2019); Pinker, Steven, Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt