Das achtsame Gehirn. Daniel Siegel
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Die Inputströme aus den subkortikalen Regionen speisen diese beiden Regionen mit verschiedenen Quellen sensorischer Daten, was uns ebenfalls zu verstehen hilft, warum solche Unterschiede auftauchen. Immer wieder wird nach Unterschieden zwischen den Geschlechtern gefragt, und so finden Sie hier eine allgemeine Aussage, die beide Geschlechter favorisiert. Die Entwicklung des weiblichen Gehirns scheint mehr Integration zu beinhalten, was auf eine größere Dicke des Balkens als Verbindung zwischen linker und rechter Hemisphäre zurückzuführen ist. Über das männliche Gehirn kann gesagt werden, dass es differenzierter und spezialisierter ist, so dass die getrennten Regionen intensiver eigenständig arbeiten können. Diese groben Verallgemeinerungen machen mich nervös, aber das ist meist die Art von Erkenntnis, die die Wissenschaft offenbart. In der klinischen Arbeit ist es wichtig, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie der Statistik zufolge sein könnten.
Die Funktionen der linken Gehirnhälfte kann man sehr leicht im Gedächtnis behalten, weil die meisten von ihnen mit „L“ beginnen: Die linke Seite ist spezialisiert auf Linguistik, Linearität, Logik und literales (wörtliches) Denken.
Im Gegensatz dazu zeichnet sich die rechte Hemisphäre durch folgende Eigenschaften aus: Sie ist nonverbal, ganzheitlich, visuell-räumlich und weist schließlich noch eine ganze Reihe nicht zusammenhängender Besonderheiten auf wie das autobiografische Gedächtnis, eine ganzheitliche Landkarte des Körpers (Körperschema), rohe und spontane Emotionen, eine anfänglich empathische, nonverbale Reaktion, Stressmodulation und eine Dominanz des alarmierenden Aspekts der Aufmerksamkeit. Man geht davon aus, dass die rechte Seite bei Leid und unangenehmen Emotionen vermittelnd wirkt und dass sie mit dem Rückzugsverhalten gegenüber Neuem korreliert. Die linke wird stärker mit positiveren affektiven Zuständen und mit Annäherungsverhalten assoziiert. Die Koordination zwischen rechts und links könnte bei der Ausprägung unserer emotionalen Gesamtstruktur eine wichtige Rolle dabei spielen, wie das achtsame Gewahrsein unseren affektiven Stil verändert (Davidson 2000). Wie wir gesehen haben, scheint Achtsamkeit zu einem Annäherungszustand zu führen, der mit einer linksseitigen Verschiebung in der frontalen elektrischen Aktivität einhergeht.
Wenn Funktionen getrennt sind, dann kann das Gehirn sie zu einem Zustand der Verbundenheit zusammenbringen, um komplexere und besser angepasste Funktionen zu ermöglichen. Das ist der Sinn der neuronalen Integration und der Weg, auf dem die komplexen Systeme des Gehirns und des Geistes Flexibilität erlangen und neue Funktionskombinationen schaffen können. Mit einer linken und einer rechten Hemisphäre, die physisch voneinander getrennt und in funktionaler Hinsicht differenziert sind, haben wir die Möglichkeit, ein anpassungsfähigeres Funktionieren zu erreichen, wenn es uns gelingt, sie zu einem Ganzen zu integrieren. So entsteht meiner Überzeugung nach Kreativität nicht aus der einen oder anderen Hemisphäre, sondern aus ihrer Integration.
Wie wir sehen werden, könnte die linke Hemisphäre eine „Erzählerfunktion“ haben, bei der diese Region dazu dient, die fortlaufende Lebensgeschichte einer Person sprachlich zu artikulieren. Doch die Inhalte unserer autobiografischen Erinnerungen sind hauptsächlich in der rechten Hemisphäre angesiedelt, und so könnte die Schaffung einer kohärenten Erzählung des eigenen Lebens als Minimum diese bilaterale Form von Integration bedingen. Die Integration von linker und rechter Hemisphäre trägt dazu bei, dass wir einen Sinn in unserem Leben sehen (Weiterführendes hierzu in Anhang III, Lateralität).
Das Bewusstsein von der Gesamtheit der Erfahrungen unseres Körpers könnte es erfordern, dass wir die integrierte Ganzkörperlandkarte der rechten Hemisphäre mit der Aktivierung des seitlichen Präfrontalkortex verbinden. Beim achtsamen Gewahrsein konzentrieren wir uns häufig auf Aspekte unserer Körperfunktionen. Diese würden dann nicht nur die Interozeption der Inselrinde und des mittleren Präfrontalkortex, sondern die gesamte, auf der rechten Seite des Gehirns repräsentierte Körperlandkarte umfassen. Wenn unser Geist in der Achtsamkeitspraxis mit dem auf Worten basierenden linksseitigen Geplapper des Moments angefüllt ist, dann könnten wir sagen, dass es einen elementaren neuronalen Wettbewerb zwischen rechts (Körperempfinden) und links (Wort-Gedanken) um die begrenzten Ressourcen des Aufmerksamkeitsfokus jenes Moments gibt. Im achtsamen Gewahrsein den Fokus auf den Körper zu verlagern, könnte eine funktionale Verschiebung weg von sprachlichen und gedanklichen Fakten und hin zu nonverbalen Bildern und somatischen Empfindungen der rechten Hemisphäre bedeuten. Das könnte uns helfen, das Untersuchungsergebnis von Sara Lazar zu verstehen, die eine Verdickung in den Strukturen des mittleren Präfrontals und der rechten Inselrinde festgestellt hat (Lazar et al. 2005).
Wenn aber die fortlaufende Erzählung, vielleicht sogar ohne Worte, in Form eines bezeugenden Gewahrseins oder eines inneren Beobachters wirklich eine Funktion der linken Hemisphäre ist, dann würde es hierbei zu einer Aktivierung des Präfrontals auf der linken Seite kommen (exekutive Aufmerksamkeit mit aktiver narrativer Beobachtung), und vielleicht zusätzlich zu einer Aktivierung des rechten mittleren Präfrontals (nonverbale Selbstreflektion und Metabewusstsein im medialen Präfrontal) sowie einer Aktivität der rechten Inselrinde mit viszeraler Repräsentation. Das könnte uns helfen, die Ergebnisse der linksseitigen Annäherungsverlagerung zu verstehen, die Davidson und seine Kollegen festgestellt haben (Davidson et al. 2003), ebenso wie Lazars Untersuchungsergebnisse zum mittleren Präfrontal und der rechtsseitigen Inselrinde (Lazar et al. 2005). Die Implikationen dieser Argumentation müssen empirisch erforscht werden, um ihre Stichhaltigkeit zu bekräftigen. Doch dies ist ein Beispiel dafür, wie wir auf bestehendes Wissen über die Gehirnfunktionen (Lateralität) zurückgreifen können, um geeignete Fragen über Phänomene (achtsames Gewahrsein) und allgemeine Prinzipien (neuronale Integration und Wohlbefinden) zu stellen, mit deren Hilfe wir das Verständnis unseres subjektiven und neuronalen Lebens vertiefen können.
„Gehirn“ und „Geist“
Wenn in diesem Buch der Begriff Gehirn verwendet wird, dann bezieht er sich immer auf das Gehirn als einen integrierten Teil des gesamten Körpers. Diese Realität verändert die Art und Weise, wie wir über die Beziehung zwischen Gehirn und Geist nachdenken. Da der Geist selbst als gleichzeitig verkörpert und beziehungsbezogen angesehen werden kann, kann unser Gehirn im Grunde genommen als das soziale Organ des Körpers betrachtet werden: Der Geist verschiedener Menschen verbindet sich über einen neuronalen Schaltkreis in unseren Körpern miteinander, der fest verdrahtet ist, um Signale anderer aufzunehmen.
Um die Beziehung des Geistes (des Fließens von Energie und Informationen) zum Gehirn (neuronale Verbindungen und ihr komplexes Feuerverhalten) zu untersuchen, müssen wir uns vor bestimmten vorgefassten Ideen hüten, die unser Verstehen beeinträchtigen und unser Denken beeinflussen könnten. Wir müssen kognitive Achtsamkeit walten lassen – offen für Kontexte sein, neue Wege der Wahrnehmung akzeptieren, subtile Unterschiede zwischen verschiedenen Ideen klar erkennen und neue Kategorien des Denkens in unserem Gewahrsein der Konzepte im jeweiligen Moment schaffen. Hier sehen wir, dass die Vorstellung einer kognitiven Achtsamkeitsdimension uns dabei helfen kann, wie wir denken und wie wir das Lernen angehen, sogar in Bezug auf die reflektive Achtsamkeit.
Die zeitliche Abfolge und der Schauplatz der neuronalen Aktivierung entsprechen der zeitlichen Abfolge und den Eigenschaften geistiger Aktivität. Wenn sich jemand eine Fotografie ansieht, dann kann seine Gehirnaktivität dabei mit einem Kernspintomografen überwacht werden. Es wird eine Aktivierung im hinteren Teil des Gehirns sichtbar sein (normalerweise erhöht sich der Blutfluss während der Aktivierung und ist auf fMRI-Aufnahmen sichtbar oder als elektrische Aktivität auf einem