Das achtsame Gehirn. Daniel Siegel
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Die Vorderseite des Gehirns führt motorische, aufmerksamkeitsbezogene und auf Gedanken basierende Prozesse aus. Unsere Frontallappen haben sich entwickelt, als wir zu Primaten wurden. Studien zeigen, dass die Ausprägung der frontalen (stirnseitigen) Kortikalarchitektur bei Säugetieren umso stärker ausfällt, je höher ihr Grad an sozialen Lebensweisen ist.
Der Frontalbereich von den zweiten Knöcheln bis zu den letzten ist eine Region, in der die erste Zone motorische Handlungen ausführt und die nächste Zone nach vorn für die motorische Planung zuständig ist. Sie wird als prämotorischer Kortex bezeichnet (Abbildung 2.4). Dieses prämotorische Areal war die erste Region, bei der das Spiegelneuronensystem festzustellen war, das es uns ermöglicht, die Intentionen und Emotionen anderer Menschen aufzunehmen und jene Zustände in uns selbst als Teil eines größeren „Resonanzschaltkreises“ zu generieren (siehe Anhang III, Resonanzschaltkreise). Wir werden die Möglichkeit erforschen, dass diese Resonanzschaltkreise unseres sozialen Gehirns eine wichtige Rolle beim achtsamen Gewahrsein spielen.
Abbildung 2.4
Die traditionelle Sicht auf das Gehirn – bedeutende Regionen (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Unmittelbar vor diesen motorischen und prämotorischen Bereichen befindet sich der Präfrontalkortex. Diese Präfrontalregion, die beim Menschen am höchsten entwickelt ist, ist für viele der Funktionen verantwortlich, die wir als einzigartig für unsere Spezies ansehen. Die Präfrontalregionen können in verschiedener Weise unterteilt werden, je nach ihren unterschiedlichen Funktionen (Abbildung 2.5). Fürs Erste werden wir sie lediglich in zwei Areale einteilen – die seitlichen und die mittleren Präfrontalregionen. Die Areale des Präfrontalkortex arbeiten im Allgemeinen als Team zusammen und ihre Funktionen in dieser Weise als System zu sehen, kann recht nützlich sein.
Der Seitenbereich der Präfrontalregion, der dorsolaterale Präfrontalkortex (DLPFC) ist für das Arbeitsgedächtnis (die „Tafel des Geistes“) verantwortlich, mit Hilfe dessen wir Inhalte kurzzeitig in unserem Gedächtnis aufbewahren können. Dieser seitliche Bereich ist für die Ausführung wichtiger Exekutivfunktionen zuständig, die die Selbstregulation unseres Verhaltens ermöglichen, und er beeinflusst auch den Fluss unserer momentanen Aufmerksamkeit.
Der mittlere Bereich, von Ihren beiden mittleren Fingernägeln zu den Knöcheln hinauf, schließt mehrere miteinander verknüpfte Regionen ein, die für jene neun mittleren Präfrontalregionen zuständig sind, die wir im nächsten Absatz näher besprechen werden. Dabei handelt es sich um den orbitofrontalen Kortex (OFC), den Kortex des anterioren Cingulums (ACC) und den ventrolateralen (vlPFC) sowie den medialen präfrontalen Kortex (mPFC). In Abbildung 2.5 sind der orbitofrontale und der mediale Präfrontalkortex zusammen dargestellt und werden als orbitomedialer Präfrontalkortex bezeichnet. In Abbildung 2.6 wird ihre Nähe zu den vorderen Anteilen des zingulären Cortex deutlich.
Diese ventralen und medialen Mittellinienstrukturen erhalten direkten Input aus dem gesamten Gehirn und dem Körper, insbesondere aus der Inselrinde (Inselkortex = IC). Die Inselrinde ist der Kanal, durch den Signale an und aus dem äußeren Kortex und den inneren limbischen Regionen (Amygdala, Hippocampus und Hypothalamus) und verschiedenen Körperbereichen (durch das Stammhirn und das Rückenmark) geschickt werden. Die mittleren Präfrontalbereiche scheinen die Daten der Inselrinde in Bezug auf unsere Emotionen und unseren primären körperlichen Zustand zu nutzen, um dann Repräsentationen vom Geiste anderer Menschen zu schaffen. Die mittleren Präfrontalbereiche sind sowohl für die soziale Kommunikation als auch für die Selbstbeobachtung unerlässlich. Diese Region ist ein zentraler Knotenpunkt im sozialen Schaltkreis des Gehirns (siehe Anhang III, Die Funktionen des mittleren Präfrontals).
Abbildung 2.5
Regionen des Präfrontalkortex (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Beachten Sie, wie die mittlere Präfrontalregion den Körper, das Stammhirn sowie die limbischen, kortikalen und sozialen Prozesse zu einem funktionalen Ganzen verbindet. Wenn Sie Ihre Finger heben und wieder senken, dann nehmen Sie vielleicht wahr, dass die mittleren Präfrontalbereiche (repräsentiert durch die Enden der beiden Mittelfinger) in anatomischer Hinsicht tatsächlich alles im Gehirn berühren. Genau das kennzeichnet die neuronale Integration: über den gesamten Körper verteilte synaptische Verbindungen, über die wir sogar mit anderen Menschen verbunden sind.
Ein interpersoneller neurobiologischer Ansatz dazu, wie unser soziales Leben uns hilft, unser Wohlbefinden zu fördern, sieht die neuronale Integration als Resultat eingestimmter Beziehungen an. Die neuronale Integration, die Koordination und Balance des Gehirns sind als getrennte Bereiche miteinander verbunden, um ein funktionales Ganzes zu bilden, und dies scheint durch den Einklang, der in sicheren Bindungen besteht, gefördert zu werden. Ich schlage vor, hier einige vorläufige Daten zu sammeln, um die Hypothese zu verifizieren, dass achtsames Gewahrsein eine solche neuronale Integration fördern könnte, und zwar durch eine Form der intrapersonalen Einstimmung.
Abbildung 2.6
Strukturen des sozialen Gehirns. Die hier gezeigten Strukturen sind unter der Oberfläche des Gehirns verborgen (Cozolino 2006; Nachdruck mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors).
Das Gewahrsein der eigenen Erfahrung von Moment zu Moment schafft die Möglichkeit, die eigenen psychischen Erfahrungen unmittelbar zu spüren und anzunehmen. Dieser Bewusstseinszustand könnte sich verschiedener Gehirnregionen bedienen, unter anderem der wichtigen stirnseitigen Bereiche des Kortex, der subkortikalen limbischen Bereiche und des Stammhirns, um einen integrierten, kohärenten Zustand herzustellen. Die neuronale Integration, die teilweise durch diese Frontalregionen herbeigeführt wird, könnte wesentlich dafür sein, ein selbstregulierendes Gleichgewicht herzustellen. Wir sollten die genannten Präfrontalbereiche im Auge behalten, wenn wir erforschen, auf welche Weise diese integrativen Bahnen eine entscheidende Rolle auf dem Weg zum Wohlbefinden spielen.
Neuronale Integration, Achtsamkeit und Selbstregulation
Das Konzept der neuronalen Integration ist eine sehr weit gefasste systemische Sichtweise der verschiedenen Funktionsweisen des Gehirns. In der Neurowissenschaft ist es möglich, sich stärker auf die Mikroanalyse zu konzentrieren und etwa die Membranen von Neuronen zu untersuchen, Neurotransmitter und ihre Rezeptoren zu studieren oder Neuronencluster und die unmittelbar mit ihnen verbundenen Nachbarzellen unter die Lupe zu nehmen. Diese tief gehende und fein abgestimmte Forschungsarbeit ist bedeutsam und faszinierend. Über diese äußerst wichtige mikroskopische Sichtweise hinaus können wir uns jedoch auch stärker nach außen orientieren und das Gehirn als Gesamtsystem untersuchen. Diese Makroansicht ermöglicht es uns nicht nur, das gesamte Gehirn und den Körper als ein funktionales Ganzes zu sehen, sondern darüber hinaus zu untersuchen, wie Signale eines Gehirn-Körpers mit anderen in Beziehungen, Familien und Gesellschaften interagieren. Das ist der Fokus unserer Arbeit im Center for Culture, Brain, and Development an der UCLA (siehe Anhang I).
Bei dem Versuch, sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroanalyseebene zu sprechen, wird man unweigerlich mit der Frage der Übersetzung konfrontiert. In unserem Zentrum müssen wir die Realität dieses Wissensspektrums einbeziehen, um die Puzzleteile zusammenzubringen, die nur dann zusammengesetzt werden können, wenn man in aller Bescheidenheit und mit allem Respekt den Wert dieser voneinander abweichenden Standpunkte