Das achtsame Gehirn. Daniel Siegel
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Den Einzelnen in der Psychotherapie auf ähnliche Weise zu sehen, scheint für viele Therapeuten etwas Neues zu sein. In dem Ringen darum, welche Terminologie sie in ihrem Buch über Achtsamkeit und Psychotherapie verwenden sollten, schrieben Germer, Siegel und Fulton (2005): „Eine wesentliche Herausforderung bei der Zusammenstellung dieses Buches bestand darin, zu einer einheitlichen Verwendung der Begriffe ‚Klient‘ bzw. ‚Patient‘ zu gelangen. Unser Berufsstand hat diese Diskussion noch nicht beendet, und wir werden es auch nicht tun. Nach eingehenderen Untersuchungen entschieden wir uns jedoch für ‚Patient‘. Von der Etymologie her bedeutet Patient ‚einer, der Leid erträgt‘, während ‚Klient‘ bedeutet, ‚einer, der sich unter den Schutz eines Schirmherrn stellt‘. Da Doktor ‚Lehrer‘ bedeutet, könnte gesagt werden, dass wir ‚Menschen lehren, die Leid ertragen‘. Diese Bedeutung entspricht der ursprünglichen Verwendungsweise der Achtsamkeit vor zweitausendfünfhundert Jahren: Sie ist eine Lehre, die Leiden lindert“ (S. XV).
Mit diesen Erkenntnissen im Hinterkopf werden wir auch den Begriff „Patient“ in diesem Text verwenden. Diese Diskussion betrifft auch unsere Herangehensweise an die Psychotherapie einerseits und an Bildung und Erziehung andererseits als zwei Bereichen, in denen diese Vorstellungen über das achtsame Gehirn umgesetzt werden. Achtsamkeit hat unmittelbare Auswirkungen darauf, das Leben von Menschen im Unterricht und im klinischen Umfeld zu verbessern, indem sie die verschiedenen medizinischen und psychologischen Stressfaktoren und Krankheiten anspricht.
Bei ihrer Suche nach einem wirksamen Ansatz für die Behandlung der weitverbreiteten chronischen Depression haben sich die anerkannten kognitiven Therapeuten Zindel Segal, Mark Williams und John Teasdale für die Achtsamkeit als einer Fähigkeit begeistert, die für ihre Bemühungen nützlich sein könnte (Segal, Williams & Teasdale 2002). Zu Beginn sahen sie die positiven Auswirkungen dieses Ansatzes als Folge des Aufmerksamkeits-Fertigkeitstrainings an, fanden jedoch bald heraus, dass die achtsame Präsenz des Therapeuten eine entscheidende Rolle für die Wirksamkeit der Behandlung spielte. Ihre Rücksprachen mit Kabat-Zinns MSBR-Klinik führten zur endgültigen Verschiebung ihres Schwerpunkts und der Entwicklung der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie (Mindfulness-Based Cognitive Therapy, kurz MBCT), die sich als erste Form von Psychotherapie erwies, die Rückfälle bei Menschen mit chronischen depressiven Phasen verhindern konnte. Ihre Beschreibung dieser Verschiebung ist aufschlussreich:
Bei unserer eigenen Ausbildung hatte man uns beigebracht, dass wir, wenn wir mit einem schwierigen klinischen Problem konfrontiert waren, mit dem Patienten zusammenarbeiten sollten, um herauszufinden, wie man es am besten lösen könnte. Und dies, indem man beispielsweise herausfand, welche Gedanken, Interpretationen und Annahmen das Problem verursachen oder verschärfen könnten. Wir rechneten damit, dieselbe Herangehensweise bei der Entwicklung des Aufmerksamkeitskontrolltrainings verfolgen und die Achtsamkeitstechniken auf diesen therapeutischen Grundrahmen „aufschrauben“ zu können. Durch unsere späteren Besuche in der Stress Reduction Clinic wurde jedoch deutlich, dass wir, sofern wir nicht die Grundstruktur unserer Behandlung veränderten, uns ständig mit den schwierigsten Problemen konfrontieren würden, indem wir immer durchdachtere Wege suchten, sie zu lösen. Stattdessen erschien es uns jetzt so, dass die übergeordnete Struktur unseres Behandlungsprogramms sich von einem Modus, in dem wir die Therapeuten waren, verändern musste zu einem, in dem wir die Dozenten waren. Worin bestand der Unterschied? Als Therapeuten fühlten wir uns angesichts unserer Verwurzelung in der kognitiv-verhaltensorientierten Tradition dafür verantwortlich, Patienten zu helfen, ihre Probleme zu lösen, die „Knoten“ ihres Denkens und Fühlens „aufzuschnüren“, ihr Leiden zu reduzieren und solange bei einem Problem zu bleiben, bis es gelöst war. Im Gegensatz dazu sahen wir, dass die MBSR-Dozenten die Verantwortung eindeutig bei den Patienten ließen und ihre primäre Rolle darin sahen, Patienten zu befähigen, sich von Moment zu Moment achtsam auf ihr eigenes Erleben zu beziehen (S. 59).
Die Akzeptanz und das Unterscheidungsvermögen der Achtsamkeit quasi als Therapeuten einzubeziehen befähigt uns, zum Mitreisenden auf diesem ungewissen Lebenspfad zu werden. In ähnlicher Weise können wir uns als Lehrer zu unseren Studenten gesellen und die Welt durch die Brille kreativer Ungewissheit sehen, welche die sich immer wieder verändernde Landschaft der äußeren und inneren Welten unseres dynamischen Lebens in der Tiefe anerkennt.
Warum sprechen wir vom „achtsamen“ Gehirn?
Durch die Erforschung potenzieller Mechanismen im Gehirn, die mit Achtsamkeit korrelieren, wird es möglich, die Verbindung zwischen unserer gewöhnlichen Alltagssicht der Achtsamkeit, der pädagogischen Nutzung kognitiver Achtsamkeitskonzepte und der klinischen Anwendung der Praktiken des reflektiven achtsamen Gewahrseins zu sehen, wie sie im Bereich körperlicher und geistiger Gesundheit zum Einsatz kommen. Diese in manchen Fällen uneinheitlichen Verwendungen des Begriffs Achtsamkeit könnten jedoch auf dieselben neuronalen Bahnen zurückgreifen. Wenn wir diese mit kognitiver und reflektiver Achtsamkeit verbundenen neuronalen Mechanismen erhellen, dann könnte uns das dabei helfen, unser wissenschaftliches Verständnis zu erweitern und so den Weg dafür zu ebnen, spezifische, überprüfbare Fragen zu stellen. Solche neuronalen Einsichten könnten darüber hinaus Licht darauf werfen, wie praktische Anwendungsmöglichkeiten der Achtsamkeit entwickelt und umgesetzt werden könnten, und zwar auf eine Weise, wie wir sie uns bisher noch nicht vorgestellt haben. Indem wir zeigen, wie Achtsamkeit unsere sozialen neuronalen Schaltkreise beeinflusst, könnten wir in der Lage sein, unser Verständnis ihrer Auswirkungen auf das physiologische und psychische Wohlbefinden zu erweitern.
Eine weitere wichtige Dimension des achtsamen Gehirns ist, dass wir, indem wir die mit achtsamem Gewahrsein verbundenen neuronalen Mechanismen verstehen, vielleicht eher in der Lage sind, seine universellen menschlichen Qualitäten zu identifizieren und es für ein breiteres Publikum zugänglicher und glaubhafter zu machen. Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der diese die Gesundheit fördernde, die Empathie erhöhende, die exekutive Aufmerksamkeit entwickelnde, das Mitgefühl mit sich selbst nährende, erschwingliche und anpassungsfähige geistige Praxis für jeden verfügbar wäre?
Zwei Arten des Wissens
Bei der Vorbereitung auf die Erforschung dieser Themen habe ich mich mit zwei Arten des Wissens befasst – dem erfahrungsbezogenen und dem experimentellen. Ich habe an einer Reihe intensiver und unmittelbarer Versenkungen in das achtsame Gewahrsein teilgenommen, um die Kraft dieser bedeutenden Art, im Leben zu sein, zu spüren. Dieser Aspekt der Reise, über den ich noch sprechen werde, befähigt uns, die innere Dimension der Achtsamkeit quasi von innen nach außen zu erleben. Die zweite Art des Wissens ist gleichermaßen kraftvoll, jedoch anders geartet: Hier geht es um die wissenschaftliche Sicht auf das achtsame Gewahrsein.
Ich erhielt eine Einladung, bei einem Sommer-Forschungsprogramm zu unterrichten. Dieses Programm wurde vom Mind and Life Institute gesponsert, das sich unter der Führung des Dalai Lama um die Integration von Wissenschaft und Meditation bemüht hat. Vertreter anderer Praktiken, unter anderem des kontemplativen christlichen Gebets, des dem Taoismus entstammenden Tai-Chi und des Yoga besuchten das Institut: Es gibt viele Wege, um achtsames Gewahrsein zu trainieren. Ich war auf einer Podiumsdiskussion und sprach über die klinischen Anwendungen von Achtsamkeit und die Transformation des Affekts durch Meditation. Bevor ich anfing, wollte ich ein Gespür dafür bekommen, welche Grundkenntnisse das Publikum in Neuroanatomie hatte, so dass ich die Einzelheiten meines Vortrags darauf abstimmen konnte. Als ich fragte: „Wer hier weiß, wie das Gehirn funktioniert?“, entgegnete einer meiner Podiumspartner, Richard Davidson, ein renommierter Forscher auf dem Gebiet der affektiven Neurowissenschaft: „Keiner von uns!“ Wir alle lachten und erkannten, wie Recht er hatte.
Das Gehirn ist ein komplexes System, und wir „wissen“ nicht wirklich zur Gänze, wie es funktioniert, noch, auf welche Weise seine Funktionen genau mit der subjektiven Natur des Geistes verbunden sind. Und noch viel weniger wissen wir, wie achtsames Gewahrsein funktioniert. Aber dennoch stehen uns