Das achtsame Gehirn. Daniel Siegel

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Das achtsame Gehirn - Daniel Siegel

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sein, wie das zu erreichen ist. Sieht man Achtsamkeit als eine Form gegenseitiger Einstimmung an, könnte es möglich sein, die Mechanismen zu enthüllen, durch die wir mithilfe der Achtsamkeitspraxis selbst unser bester Freund oder unsere beste Freundin werden könnten. Wir würden unseren besten Freund schließlich auch freundlich und gütig behandeln. Einstimmung steht im Zentrum liebevoller Beziehungen aller Art: derjenigen zwischen Eltern und Kind, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Therapeut und Patient bzw. Klient, zwischen Geliebten, Freunden und nahen Berufskollegen.

      Mit dem achtsamen Gewahrsein, so können wir annehmen, tritt der Geist in einen Seinszustand ein, in dem die eigenen Hier-und-Jetzt-Erfahrungen unmittelbar gespürt werden, sie als das akzeptiert werden, was sie sind, und mit Güte und Respekt anerkannt werden. Das ist die Art von gegenseitiger Einstimmung, die Liebe fördert. Und diese gegenseitige Einstimmung, so glaube ich, ist es auch, die uns sehen hilft, wie achtsames Gewahrsein die Liebe uns selbst gegenüber fördern kann.

      Es ist nachgewiesen worden, dass zwischenmenschliche Beziehungen emotionale Langlebigkeit fördern und uns dabei helfen, Wohlbefinden und körperliche Gesundheit zu erlangen (Anderson & Anderson 2003). Ich gehe hier davon aus, dass das achtsame Gewahrsein eine Form der Beziehung zu einem selbst ist, eine innere Form der Einstimmung, die in ähnlicher Weise gesundheitsfördernd ist. Dies könnte der bisher noch unidentifizierte Mechanismus sein, durch den Achtsamkeit das Wohlbefinden fördert.

      Weil er die tiefe Bedeutung der Kraft der Achtsamkeit spürte, initiierte Jon Kabat-Zinn gegen Ende der siebziger Jahre ein Projekt zur Anwendung dieser uralten Ideen in einem modernen medizinischen Umfeld. Was als Inspiration während eines stillen Retreats begann, führte dazu, dass Kabat-Zinn an die medizinische Fakultät der Universität von Massachusetts herantrat, an der er lehrte. Er bat darum, Patienten aufnehmen zu dürfen, deren Situation sich durch konventionelle medizinische Interventionen nicht mehr verbessern ließ. Und er fragte sich auch, ob er irgendetwas zur Genesung derjenigen Patienten beitragen könne, die mit konventionellen Mitteln behandelt wurden. Die medizinische Fakultät, die froh war, einen Platz zu haben, an dem die Betroffenen hoffentlich etwas Erleichterung finden könnten, stimmte zu, und so wurde die Stress Reduction Clinic aus der Taufe gehoben und die „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (Mindfulness-Based Stress Reduction, kurz MBSR) entwickelt (Kabat-Zinn 1990).

      Das MBSR-Programm brachte Menschen mit den unterschiedlichsten chronischen Krankheiten, von Rückenschmerzen bis hin zu Schuppenflechte, die uralte Praxis der Achtsamkeit nahe. Kabat-Zinn und seine Kollegen, einschließlich Richard Davidson von der Universität Wisconsin in Madison, waren letztlich in der Lage, nachzuweisen, dass das MBSR-Training dazu beitragen konnte, subjektives Leiden zu verringern, die Immunfunktionen zu verbessern und die Heilung zu beschleunigen sowie zwischenmenschliche Beziehungen und ein allgemeines Gefühl von Wohlbefinden zu fördern (Davidson et al. 2003).

      MBSR ist jetzt von Hunderten von Programmen auf der ganzen Welt übernommen worden, und die Forschung hat nachgewiesen, dass seine Anwendung physiologische, psychologische und zwischenmenschliche Verbesserungen bei einer Vielzahl von Patientenpopulationen herbeigeführt hat (Grossman et al. 2004).

      Angesichts der Tatsache, dass diese übereinstimmenden Ergebnisse so stabil sind, und angesichts des wachsenden Interesses an Praktiken des achtsamen Gewahrseins war es nicht weiter überraschend, dass sich auch meine eigene Disziplin der geistigen Gesundheit der Essenz der Achtsamkeit zuwandte und sie als Grundlage verwendete, um Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen anzusprechen.

      Achtsamkeitspraktiken haben zahlreiche psychotherapeutische Ansätze beeinflusst, wobei die neueren Forschungen signifikante Verbesserungen bei verschiedenen Erkrankungen zeigen, die sich in einer Verringerung der Symptome und der Verhinderung von Rückfällen äußern (Hayes, Follette & Linehan 1993; Hayes, Strosahl & Wilson, 1999; Linehan 1993; Marlatt & Gordon 1985; Parks, Anderson & Marlatt 2001). Achtsamkeit kann darüber hinaus mittels kognitiver Therapie Rückfälle bei chronischen Depressionen verhindern (Segal, Williams & Teasdale 2002). In ähnlicher Weise ist Achtsamkeit als essenzieller Bestandteil der Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Rahmen der dialektischen Verhaltenstherapie (Dialogical Behavior Therapy, kurz DBT) verwendet worden (Linehan 1993). Von Marlatt und seinen Kollegen (2001) ist Achtsamkeit eingesetzt worden, um Rückfälle bei Drogenabhängigen zu verhindern. Die Prinzipien der Achtsamkeit sind außerdem ein ganz wesentlicher Bestandteil bei der Anwendung der zeitgenössischen Verhaltensanalyse in der ACT-Therapie, die auf Akzeptanz und innerer Verpflichtung beruht (Hayes 2004). Eine der ersten Studien, die gezeigt hat, dass Psychotherapie die Funktionsweise des Gehirns verändern kann, hat Achtsamkeitsprinzipien in der Behandlung von Menschen mit Zwangsneurosen eingesetzt (Baxter, Schwartz, Bergman, Szuba, Guze, Mazziotta et al. 1992). Mittlerweile sind mehrere Bücher erschienen, die sich mit dem Einsatz von Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen befassen – von Essstörungen bis hin zu Angstzuständen, posttraumatischem Stresssyndrom und Zwangserkrankungen (Hayes, Folette & Linehan 2004; Germer, Siegel & Fulton 2005; Segal, Williams & Teasdale 2002).

      Die allgemeine Idee vom klinischen Nutzen der Achtsamkeit ist, dass das Annehmen der eigenen Situation den inneren Kampf erleichtern kann, der möglicherweise auftaucht, wenn die Erwartungen, wie das Leben sein sollte, nicht damit übereinstimmen, wie das Leben ist (Brach 2003; Hayes 2004; Linehan 1993a). Achtsam zu sein beinhaltet, zu spüren, was ist, sogar das eigene Urteilen zu spüren und zur Kenntnis zu nehmen, dass Empfindungen, Bilder, Gefühle und Gedanken kommen und gehen. Wenn Sie eine COAL-Haltung haben, dann läuft der Rest wie von selbst. Es gibt kein bestimmtes Ziel, kein Bemühen, etwas „loszuwerden“, sondern einfach nur die Intention, zu sein und, ganz spezifisch, das Im-Moment-Sein zu erleben, während man das Festhalten an Urteilen und Zielen loslässt.

      Aus dieser reflektierenden und achtsamen COAL-Seinsweise aufzutauchen ist ein grundlegender – als „Einsicht“ bzw. „Urteilsvermögen“ oder „Unterscheidungsvermögen“ definierter – Prozess, der es ermöglicht, sich bewusst zu werden, dass die Aktivitäten des Geistes nicht die Gesamtheit dessen sind, was Sie sind.

      Die Einsicht ist eine Form der Desidentifikation von den Aktivitäten Ihres Geistes: Indem Sie der auftauchenden Sinneseindrücke, Bilder, Gefühle und Gedanken (sensations, images, feelings, thoughts, kurz SIFT) gewahr werden, sehen Sie diese Aktivitäten des Geistes als Wellen auf der Oberfläche des geistigen Ozeans. Von diesem tieferen Platz Ihres Geistes aus, diesem inneren Raum achtsamen Gewahrseins, können Sie das Kommen und Gehen der Gehirnströme an der Oberfläche einfach wahrnehmen. Diese Fähigkeit, sich vom Geschwätz des Geistes zu lösen und zu erkennen, dass es sich dabei „einfach nur um Aktivitäten des Geistes“ handelt, ist befreiend und für viele Menschen revolutionär. Im Wesentlichen ist es dieses Unterscheidungsvermögen, durch das uns die Achtsamkeit dabei helfen kann, Leiden zu lindern.

      Die Kraft des Unterscheidungsvermögens verleiht uns darüber hinaus die Weisheit, rücksichtsvoller und mitfühlender miteinander umzugehen. In dem Maße, wie wir Freundlichkeit und Güte uns selbst gegenüber entwickeln, können wir auch freundlich und gütig anderen gegenüber sein. Wenn wir uns von unseren automatischen mentalen Gewohnheiten befreien, dann sind wir frei dafür, uns auf ein tieferes Gefühl von Verbundenheit und Empathie gegenüber anderen einzulassen.

      Eine achtsame Herangehensweise an die Therapie sowie an Bildung und Erziehung beinhaltet Veränderungen in unserer Einstellung gegenüber den Menschen, mit denen wir arbeiten. Die aktive Beteiligung des Schülers bzw. der Schülerin am Lernprozess befähigt den Lehrer, sich der Entdeckungsreise, die das Unterrichten sein kann, als gleich gesinnter Erforscher anzuschließen: Wir können das Wissen ebenso wie die Ungewissheit mit Neugierde, Offenheit, Akzeptanz und freundlicher Aufmerksamkeit bereitwillig annehmen. Der Lehrer muss

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