Das heilende Potenzial der Achtsamkeit. Jon Kabat-Zinn

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Das heilende Potenzial der Achtsamkeit - Jon Kabat-Zinn

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alle leben ständig am Rande eines solchen Albtraums. Aber irgendwie ist unser Orientierungssystem so robust, dass uns der pathologische Zustand und der Albtraum erspart bleiben – zumindest auf der konventionellen Ebene. Aber »Wer bin ich?« und »Wohin gehe ich?« sind tiefgründige Fragen, im Grunde echte Zen-Kōans.4 Ich denke, dass es uns sehr gut tun würde, wenn wir uns diese Fragen als eine Meditationsübung regelmäßig selber stellten, statt das, was wir sind und was wir tun, für selbstverständlich zu halten; besonders, wenn wir glauben, die Antwort zu kennen und den Schleier der oberflächlichen Erscheinung und Geschichten, die wir uns selbst erzählen, und der vielleicht die Tiefenstruktur und die vielfältigen Dimensionen unseres wahren Lebens überdeckt, beiseite zu ziehen. Denn keine von uns kann sich jemals sicher sein, dass ihr diese Fähigkeiten auch weiterhin zur Verfügung stehen werden, oder wie lange sie noch leben wird, um zu lernen und in die Fülle ihrer selbst hineinzuwachsen.

      Was bei meinem Vater erhalten blieb, als sein Gedächtnis und sein Verstand schon fast gänzlich dahin waren, war die Liebe seiner Familie und die tiefen Bande zu vielen wunderbaren FreundInnen, KollegInnen und StudentInnen in aller Welt, und das, was er in der Welt getan, gegeben und geliebt hatte. Das sind die menschlichsten unserer Verbindungsfäden zu dieser Welt. Aber auch sie sind flüchtig und vergänglich, sodass wir sie am besten anerkennen, sie kultivieren und uns ihrer erfreuen sollten, solange wir noch Gelegenheit dazu haben.

      Was eine jede von uns irgendwann einmal vielleicht am tiefsten bedauern könnte, ist, den Moment nicht beim Schopfe gepackt und als das gewürdigt zu haben, was er war, solange er greifbar war, insbesondere, was unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zur Natur angeht. Vielleicht ist das die wesentlichste Orientierung, sowohl innerhalb von Zeit und Raum als auch gleichzeitig außerhalb von Zeit und Raum: ein nahtloses, kontinuierliches Erkennen dessen, was ist, direkt, nichtbegrifflich und in der eigenen Erfahrung verankert. Und all dem mit Liebe zu begegnen.

      4 Ein Kōan ist ein Hilfsmittel der Zen-Schulung, eine Herausforderung in Form einer Frage oder eines Dialogs, die man versucht, während der Meditation vor dem inneren Auge zu halten, die man begreifen und auf die man antworten soll, ohne mit dem diskursiv denkenden Geist zu antworten, da jegliche Antwort, die aus dem Denken kommt, nicht authentisch und nicht den gegebenen Umständen angemessen sein wird. Beispiele für ein Kōan sind die Fragen »Was bin ich?« oder »Hat ein Hund die Buddha-Natur?« oder »Was ist Buddha?«. Praktisch sämtliche Situationen unseres Lebens könnte man als einen Kōan ansehen; es könnte etwa »Was ist dies?« oder sogar »Was jetzt?« lauten. Die Antwort könnte in jedem Augenblick eine andere sein. Es geht einzig darum, dass sie authentisch und angemessen ist und nicht aus dem dualistischen Denken hervorgeht. Es kann auch eine nichtverbale Antwort sein.

      Orthogonale Wirklichkeit – Quantensprünge des Bewusstseins

      

Im Allgemeinen sind wir Menschen bewunderungswürdige Erforscher und Bewohner der konventionellen Realität, der Welt »da draußen«, wie sie von unseren fünf klassischen Sinnen definiert und moduliert wird. Wir haben uns im Laufe der noch kurzen menschlichen Geschichte in dieser Welt eingerichtet und haben gelernt, sie nach unseren Bedürfnissen und Wünschen zu gestalten. Dank der Anstrengungen der Naturwissenschaften verstehen wir Ursache und Wirkung in der physischen Welt, zumindest in der Welt der Newtonschen Physik, immer mehr, und dieses Verständnis vertieft sich ständig noch weiter, während neue Entdeckungen gemacht werden.

      Doch selbst in den Naturwissenschaften ist es, wenn wir die Grenzbereiche betrachten, nicht so klar, ob wir die zugrundeliegende Wirklichkeit tatsächlich verstehen, die zwar statistisch ergründet, aber doch auf beunruhigende Weise unvorhersagbar und geheimnisvoll zu sein scheint, etwa bei der Frage nach Ursache und Zeitpunkt eines bestimmten Vorgangs von radioaktivem Zerfall im Kern eines radioaktiven Atoms, oder ob das Universum endlich ist oder nicht, ob Zeit tatsächlich existiert, was im Inneren eines Schwarzen Lochs geschieht, warum das Vakuum so viel Energie besitzt, oder ob Raum nichts oder etwas ist.

      Nichtsdestoweniger haben wir in der alltäglichen Realität der gelebten Erfahrung, wie schon früher angemerkt, einen Körper; wir werden geboren, leben unser Leben und sterben. Zum größten Teil bleiben wir dabei, den Schein der Dinge zu akzeptieren und mehr oder weniger bequeme Erklärungen dafür zu finden, wie die Dinge sind und warum sie so sind. Und unsere Sinne können uns einlullen, wenn wir uns von unseren Gewohnheiten bestimmen lassen und nicht wirklich von Moment zu Moment mit den Dingen in Kontakt sind, – wenn wir dermaßen von unserem Denken und Handeln absorbiert sind, dass wir uns vom Bereich des Seins, von der Empfindungsfähigkeit entfernen, auch wenn sie uns in jedem Moment näher als nah ist.

      Während ein junger Mensch auf der Straße an uns vorbeigeht, sage ich zu Myla: »Hat er nicht ein schönes Gesicht?« Worauf sie antwortet: »Ja, wenn du das Fehlen jeglichen Gefühls darin übersiehst.«

      Es hängt alles davon ab, was wir bereit sind zu sehen oder was wir aus einem Reflex heraus ignorieren, wie bereitwillig wir unsere momentane Wahrnehmung an das Seil eines aus Gewohnheit unachtsamen Wahrnehmens andocken lassen, bei dem wir nicht wirklich hinsehen, aber doch so tun, als täten wir es.

      In der Welt der konventionellen Realität tun wir unser Bestes. Wir verdienen unseren Lebensunterhalt, bringen das Essen auf den Tisch, lieben unsere Kinder und kümmern uns um unsere Eltern. Wir tun unsere Arbeit und was sonst noch nötig ist, um uns im Leben weiter vorwärts zu bewegen, und vielleicht lernen wir sogar, wie der Grieche Alexis Sorbas, zu tanzen – auch im Angesicht der existentiellen Prüfungen des Lebens, von Stress, Schmerzen, Krankheit, Alter und Tod, eben dem, was Sorbas »die ganze Katastrophe« nannte. Und dabei befinden wir uns die ganze Zeit in einem Strom von Gedanken, deren Ursprung und Inhalt uns häufig nicht klar sind, und die zwanghaft, sich ständig wiederholend, ungenau, quälend unaufhörlich und toxisch sein können: Gedanken, die auf den gegenwärtigen Augenblick abfärben und ihn vor uns verbergen. Außerdem werden wir oft von Gefühlen überwältigt, die wir nicht zu kontrollieren vermögen und die bei uns und anderen großen Schaden anrichten können, oder die das Resultat früherer Verletzungen oder vermeintlicher Verletzungen sind. Sie hindern uns daran, einigermaßen klarzusehen, selbst wenn unsere Augen weit offen sind.

      Unangenehme Momente sind verwirrend und verstörend. Deshalb betrachten wir sie oft als Verirrungen oder Hindernisse für jenes Glück, nach dem wir ständig auf der Suche sind, und um das wir so viele Geschichten spinnen. Wir übertünchen solche Momente mit unserer andauernden Unaufmerksamkeit, sodass sie schnell in Vergessenheit geraten. Es kann aber auch sein, dass wir um unser Versagen, unsere Unzulänglichkeiten und unsere Missetaten herum eine ebenso unangenehme und quälende Geschichte bauen, eine Geschichte, die erklärt, warum wir unsere Begrenzungen und unser Karma nicht transzendieren können. Oft halten wir diese Geschichte dann auch noch für wahr, vergessen, dass sie bloß eine der vielen Geschichten ist, die wir uns selbst erzählen, und halten verzweifelt daran fest, als hingen unsere Identität, unser Überleben und all unsere Hoffnungen davon ab.

      Außerdem vergessen wir gern, dass unsere konventionelle Realität, die Konsensusrealität, die wir das normale Leben nennen, selbst in einem Pawlowschen Sinne zutiefst konditioniert ist.

      Infolge dieser lebenslangen Konditionierung sind wir nicht wirklich so »frei«, wie wir zu sein glauben, wenn wir annehmen, wir besäßen die Freiheit, zu tun und zu lassen, was immer wir wollten, was jedoch nur bedeuten mag, dass wir völlig im Griff des gewohnheitsmäßigen Festhaltens und Zurückweisens unseres Geistes und diesem total ausgeliefert sind. Wir sind uns nicht einmal unseres Potenzials zu jener Freiheit bewusst, von der Einstein und Buddha gesprochen haben. Und warum? Weil wir vergessen oder nicht wissen, dass wir nicht unaufhörlich und unweigerlich auf die Ereignisse reagieren müssen, in unseren oft unbewussten Entscheidungen, dies oder jenes zu tun, uns mit diesem oder jenem zu beschäftigen, dieses oder jenes zu meiden, dieses oder jenes zu vergessen. Uns ist nicht klar, dass all diese Konditionierungen sich zu dem addieren, was aussieht wie ein Leben, oft aber beunruhigend

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