Das heilende Potenzial der Achtsamkeit. Jon Kabat-Zinn

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Das heilende Potenzial der Achtsamkeit - Jon Kabat-Zinn

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Forschungsberichte veröffentlicht. Er war der Koautor von drei Ausgaben eines gewichtigen Lehrbuchs mit dem Titel Experimental Immunochemistry, zu seiner Zeit die Bibel auf diesem Gebiet, und er hatte eine Reihe anderer Fachbücher veröffentlicht, von deren Inhalt ich trotz meiner Ausbildung in Molekularbiologie kaum ein Wort verstand. Und nun verwechselte dieser Mann einen Steuerabzug mit einer Rückzahlung, fragte mich, in wessen Haus er sich befand, wenn er mich besuchen kam, erklärte mir mit einiger Befriedigung, er habe eine besondere Abmachung mit der Telefongesellschaft, dass er seine Telefonrechnung mit Einzahlungsbelegen statt mit einem Scheck begleichen dürfe, und war dabei so überzeugend und liebenswürdig, dass ich ihm für einen Moment beinahe glaubte. Nun erzählte er gelegentlich, wie er einst eine Zeit lang unter den Pygmäen in Afrika gelebt habe, und dass sie, die bereits alle seine Forschungsberichte gelesen hatten, »sehr froh« gewesen seien, ihn zu treffen, als er in ihrem Dorf ankam. Der Vorstellung, wie diese kleinen Menschen zu ihm aufsahen und ihm ihre Ehrerbietung erwiesen, konnte ich mich nicht erwehren. Als ich ihn fragte, wo in Afrika das gewesen sei, antwortete er »Südamerika«. Und in diesem Stil ging es weiter. Er lief ziellos in der Nachbarschaft umher. Er wurde inkontinent. Er begriff seine eigene Arbeit nicht mehr. Und er wusste immer weniger zu sagen, wer seine Freunde waren.

      Die Zeit, die ich mit ihm verbringen konnte, war mir kostbar, ganz gleich, was geschah, während sich der Vorhang auf sein Gedächtnis herabsenkte und er immer weniger wusste, wo er war und was mit ihm geschah. Wir saßen nebeneinander und hielten uns bei der Hand, manchmal stundenlang. Er konnte sehr lange dasitzen. Es war, als meditierten wir zusammen. Er war auf seine Weise präsent und ich auf meine. Das Wichtigste war, dass wir zusammen waren. Unsere gemeinsame Zeit war kostbar, schmerzlich und zum Verzweifeln.

      Er hatte so seine Momente. Eines Tages, als er im Garten vor einem hohen Lattenzaun saß, hinter dem ein Telefonmast vor den Büschen und dem Himmel emporragte, in den ein einziges Kabel hinein, aber keines hinausführte (es muss wohl auf der Rückseite des Mastes in die Erde geleitet worden sein), erklärte er plötzlich wie aus dem Nichts: »Na, das ist wohl wirklich die Endstation.«

      Da war viel Wahres dran. Ich konnte nicht umhin, mir vorzustellen, wie ein Foto von uns beiden aussähe, von hinten aufgenommen, wie wir da auf der Bank saßen, den Telefonmasten mit seinem einsamen Kabel vor uns, dahinter der Himmel. Es hätte den Titel »Endstation« tragen können. Für ihn war es das.

      Bei einer anderen Gelegenheit kommentierte er das Kommen und Gehen der Krankenwagen, das er vom Fenster seines Zimmers in dem Pflegeheim, in dem er schließlich untergebracht werden musste, aus beobachtete, mit dem Satz: »Wenn du stirbst, dann schmeißen sie dich raus.«

      Ich spürte, wie seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten immer mehr nachließen, und eine Zeit lang spürte er es ebenfalls und lehnte sich dagegen auf, bis auch diese Auflehnung sich auflöste. Aber es kam nie soweit, dass er nicht mehr wusste, wer seine Frau, wer seine Kinder und Enkelkinder waren. Er konnte uns allein an der Stimme am Telefon erkennen. Wenn ich ihn anrief und nur »Hi, Dad« sagte, wusste er sofort, dass ich am Apparat war und nicht einer meiner beiden Brüder. Seine liebevolle Begrüßung »Hi, Johnny, Schatz« traf mich mit schmerzlicher Wucht und löste Dankbarkeit und Traurigkeit zugleich aus.

      An dem Tag, an dem er starb, hatte ich ihn einige Stunden lang in meinen Armen gehalten und ihm seine Lieblingslieder von Gilbert und Sullivan vorgesungen, Lieder, die er für mich gesungen hatte, als ich noch ein Kleinkind gewesen war. Hier und da veränderte ich den Text und erfand neue Verse, um ihm die Botschaft zu vermitteln, wie sehr er in der Liebe seiner Familie lebte, und dass es ganz in Ordnung war, wenn er nun Abschied nahm. Zwischen diese Lieder streute ich immer wieder Rezitationen von Mantren und Texten ein, die ich im Lauf der Jahre in den verschiedenen Traditionen, in denen ich Meditation praktiziert hatte, gelernt hatte, einschließlich des »Herz-Sūtra« auf Englisch und Koreanisch, um dann immer wieder in lange Phasen des Schweigens zu verfallen. Es fühlte sich irgendwie richtig an, »Form ist nichts anderes als Leere, Leere ist nichts anderes als Form« anzustimmen, während mir Tränen über die Wangen liefen. In all dem und besonders in den langen Phasen der Stille war ich mir seiner zaghaften, unregelmäßigen Atmung bewusst, aber auch meiner eigenen. Und dann kam nach vielen Stunden ein Moment, in dem seine Ausatmung stockte – und keine Einatmung folgte. Schluchzend hielt ich ihn noch lange in den Armen.

      Während der acht langen Jahre, in denen mein Vater seinen Verstand verlor, wurde mir sehr viel über die Dinge klar, die ich für selbstverständlich gehalten hatte. Er verlor zunehmend den Kontakt zu dem, was nur wenige Momente zuvor geschehen war. Er war zwar präsent, aber es war eine verwirrte Präsenz. Er war sich des Zusammenhangs der Dinge nicht mehr bewusst. Er besaß keine Orientierung in einem umfassenden Bewusstsein, das ein Gefühl für Vergangenheit und Zukunft beinhaltete. Er brachte es oft nicht fertig, Gedanken, die er zweifellos hatte, festzuhalten und in Worte zu fassen. So sprach er zum Beispiel über bestimmte Dinge, musste dann aber, weil ihm das Wort nicht einfiel, auf Begriffe wie »Substanz« oder »Material« zurückgreifen, die er in seinem wissenschaftlichen Vokabular oft verwendet hatte, was zur Folge hatte, dass wir ihn einfach nicht verstehen konnten, weil alles so vage war. Seine Beziehungen außerhalb der Familie wurden für ihn immer verschwommener, doch seine Gefühlswelt war weiterhin intakt. Nach einer schrecklichen und erschreckenden Phase intensiver Frustration und Wut über seine missliche Lage und seine Unfähigkeit, trotz aller Versuche, an seinem Leben, seinem Labor und seiner Welt festzuhalten, wurde er sanfter und offenkundiger liebevoll. Er vereinsamte allerdings auch zunehmend und war immer mehr in seiner Welt isoliert. Er freute sich über alle Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte. Er liebte Aufmerksamkeit. Das war schon immer einer seiner herausragenden Charakterzüge gewesen, ganz gleich, wie sehr seine Leistungen von der Welt anerkannt wurden. Doch bis zum Ende musste es eine respektvolle Aufmerksamkeit sein. Er nahm sehr wohl wahr, ob jemand nur so tat, als ob, und sich über ihn lustig machte, oder ob die Zuwendung von Herzen kam.

      Die Krankheit meines Vaters machte mir klar, wie wichtig es ist, von dem vollen Spektrum unserer geistigen Fähigkeiten Gebrauch zu machen, solange wir sie noch besitzen, und sie auf keinen Fall für selbstverständlich zu halten. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, diese Fähigkeiten zu entwickeln, um die Wirklichkeit der Dinge erkennen zu können und sich nicht dazu verführen zu lassen, die bloße Erscheinung irrtümlich für die Realität zu halten. Das war meinem Vater in seiner Laufbahn als Wissenschaftler nie passiert, aber wie wir alle war er in anderen Bereichen des Lebens nicht dagegen immun, auch wenn er Immunologe war.

      Schließlich müssen wir alle wissen, wo wir in Zeit und Raum lokalisiert sind (und sei es nur, dass wir wissen, dass wir uns verirrt haben), und wenn wir nicht gerade an Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz leiden, dann wissen wir das auch. Und wir alle müssen wissen und mit der relativen Erfahrung des Wissens in Kontakt sein, wann wir etwas erfahren (jetzt) und wo wir uns befinden (hier), und wir müssen unsere Position innerhalb eines Stroms von »vorher und nachher« bestimmen können und wissen, wo wir wann waren.

      Unser Nervensystem übernimmt auf eine Weise, die wir noch nicht verstehen, diese orientierenden Funktionen für uns und macht seine Arbeit zeitlebens bemerkenswert gut. Aber wir sollten nicht vergessen, dass dies eine Eigenschaft des Geistes ist, die ebenfalls vergänglich ist, der wir uns nicht sicher sein und die wir nicht für selbstverständlich halten dürfen. Wenn wir Achtsamkeit kultivieren, dann machen wir den besten Gebrauch von dieser Fähigkeit, solange uns das noch möglich ist.

      Der Verlust dieser grundlegenden Funktion der Orientierung wird mit erschreckender Eindringlichkeit in der Anfangsszene des Romans Die Diagnose von Alan Lightman beschrieben, in der ein Geschäftsmann auf dem Weg zur Arbeit irgendwo zwischen einem Vorortbahnhof und seinem Bestimmungsort im Zentrum von Boston einfach und auf unerklärliche Weise vergisst, wer er ist und wohin er gerade fährt. Der surreale Albtraum, sein Ziel und seine Orientierung zu verlieren (»Wohin fahre ich denn heute morgen in meinem Geschäftsanzug? Ach ja. Natürlich ins Büro, wie all die Leute in diesem Zug. Aber wo arbeite ich denn und was habe ich eigentlich für einen Beruf?«), führt plötzlich dazu, dass er sich in einem traumartigen Zustand verliert, in dem ihm alles vage

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