Das heilende Potenzial der Achtsamkeit. Jon Kabat-Zinn

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Das heilende Potenzial der Achtsamkeit - Jon Kabat-Zinn

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dass die Achtsamkeitspraxis zu einer Verschiebung des Default Mode von unbewusster (man könnte auch sagen achtloser) Selbstversunkenheit, gedanklichem Umherschweifen, Geschichtenerzählen, Tagträumen und Gedankenverlorenheit hin zu mehr Präsenz, mehr Achtsamkeit und mehr Bewusstheit führt, auch wenn Gedanken und Gefühle natürlich weiterhin auftauchen.

      In dieser Studie zeigte sich, dass sich die beiden Netzwerke (das geschichtenerzählende und das erfahrungsbasierte Netzwerk) nach einem achtwöchigen MBSR-Kurs entkoppeln. Selbstverständlich funktionieren beide Netzwerke weiterhin. Schließlich ist es für Kreativität und Vorstellungskraft wichtig, gelegentlich Tagträumen nachzuhängen.2 Es ist ebenfalls sehr wichtig, die eigene Vergangenheit von der Gegenwart und der imaginierten Zukunft unterscheiden zu können, wie in der Geschichte über meinen Vater im Kapitel »Orientierung in Zeit und Raum« deutlich werden wird. Doch nach acht Wochen Achtsamkeitspraxis scheint es so zu sein, dass das erfahrungsbasierte, nicht an Zeit gebundene laterale Netzwerk im Kortex auf das zentral gelegene DMN einwirkt, sodass durch dieses Zusammenspiel mehr Weisheit und Entscheidungsfreiheit in einem jeden Moment möglich wird, statt bloßem automatischen Funktionieren und dem gewohnheitsmäßigen Glauben an implizite Geschichten über ein Selbst, das viel zu klein ist, um auch nur dem nahezukommen, wer und was wir eigentlich sind, in all unserer Fülle, genau hier und jetzt.

      In den zwölf Jahren, seit mein Buch Zur Besinnung kommen erstmals erschien, ist die Zahl an wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zu Achtsamkeit und an Belegen bezüglich ihrer klinischen Effektivität geradezu explodiert. Zu den Befunden zählen Veränderungen in der Größe und dem Durchmesser verschiedener Gehirnstrukturen bei Menschen, die Achtsamkeit praktizieren, sowie eine gesteigerte funktionale Verbundenheit zwischen verschiedenen Gehirnregionen. In einigen Studien zeigen sich Veränderungen in der Genexpression auf der Ebene der Chromosomen – auch genannt »epigenetische Effekte« – in anderen wurden Auswirkungen auf die Länge der Telomere nachgewiesen: ein biologisches Maß für die Auswirkung von Stress auf unser Leben, insbesondere von intensivem Stress. Der Tenor der Beweislage in diesen Studien sowie in Hunderten weiteren, die Jahr für Jahr veröffentlicht werden, ist, dass an der Praxis der Achtsamkeit etwas dran sein muss, das einen großen Einfluss auf unsere Biologie, unsere Psychologie und sogar auf unsere Interaktionen miteinander, also unsere Sozialpsychologie, haben kann. Zwar steckt die wissenschaftliche Forschung zu Meditation noch immer in den Kinderschuhen, doch inzwischen ist sie deutlich ausgereifter als vor zwölf Jahren. Wenn Sie sich für einige der beständigsten Befunde interessieren, die einerseits aus zahlreichen Studien an Mönchen und Nonnen stammen, die auf Zehntausende Stunden Meditationspraxis zurückblicken, und andererseits aus Studien an Menschen, die an MBSR- und MBCT-Kursen teilgenommen haben, empfehle ich Ihnen, einen Blick in das Buch Altered Traits von meinen Kollegen Richard Davidson und Daniel Goleman zu werfen, das im Oktober 2017 erschienen ist. Darin sind viele der besten Studien und deren Befunde zusammengefasst. Da das Feld inzwischen so weit geworden ist und weiterhin rapide wächst, habe ich in diesem Buch darauf verzichtet, jüngere Studien im Detail zu schildern, obgleich ich einige davon erwähne. Falls Sie die neuesten Entwicklungen genauer nachvollziehen möchten: Eine Reihe von ausgezeichneten Büchern zum Thema, hauptsächlich von Wissenschaftlerinnen für eine Laienleserschaft verfasst, sind in den Literaturverweisen am Ende dieses Buches aufgelistet, daneben auch einige, die sich eher an ein wissenschaftlich und medizinisch versiertes Publikum richten.

      *

      Wenn wir die formale Meditationspraxis in unser alltägliches Leben hinein ausweiten, dann wird das Leben selbst zu unserem Achtsamkeitslehrer. Es bietet uns zudem das beste Curriculum für unsere Heilung, nämlich genau da ansetzend, wo wir uns sowieso gerade befinden. Die Prognose ist sehr gut: Auch Sie können von dieser neuen Seinsweise profitieren, wenn Sie sich mit ganzem Herzen der Praxis widmen und einen der zahlreichen Zugangswege nutzen, die Ihnen durch Ihr Menschsein an sich und in Ihren aktuellen Umständen offen stehen. Jeder Umstand, egal wie ungewollt oder schmerzhaft, ist eine potenzielle Tür in die Heilung. In der Welt der Achtsamkeit als Praxis und als Seinsweise gibt es viele, viele Türen. Sie alle führen in den gleichen Raum, den Raum des Gewahrseins an sich, den Raum des eigenen Herzens, den Raum Ihrer eigenen innewohnenden Ganzheit und Schönheit. Ganzheit und Schönheit sind bereits da, in Ihnen, wie auch Ihre intrinsische Fähigkeit zu Wachheit, selbst unter den aufreibendsten Umständen.

      Eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis zu etablieren, bedeutet eine große Veränderung des eigenen Lebensstils, wie MBSR-Teilnehmerinnen meist schnell selbst herausfinden, auch wenn sie das stets gesagt bekommen, bevor sie sich anmelden. Aber wenn wir die Disziplin einer täglichen formalen Achtsamkeitspraxis als Experiment durchführen und uns, so gut es uns gelingt, mit ganzem Herzen jeden Tag aufs Neue darauf einlassen, entdecken wir bald, dass wir einige Freiheitsgrade in unserer Entscheidung haben, wie wir uns auf das Unerwünschte oder das Beängstigende in unserem Leben beziehen, – ohne dabei zu leugnen, wie unerwünscht oder beängstigend manche Dinge sein können. In genau dieser Kultivierung von Achtsamkeit, als formale Meditationspraxis und als Seinsweise, entdecken wir, dass wir kraftvolle innere Ressourcen haben, aus denen wir schöpfen können, wenn wir dem Unerwünschten, Stressigen, Schmerzhaften oder Erschreckenden ins Auge blicken. Wir erleben, dass wir zahllose Gelegenheiten haben, uns dem, was auftaucht, zuzuwenden und uns damit anzufreunden, anstatt davor davonzulaufen oder uns einzumauern – ihm sozusagen den roten Teppich auszurollen. Warum? Aus dem einfachen Grund, dass es ohnehin bereits da ist. Und das Gleiche gilt für das Erwünschte, das Angenehme, das Verführerische, für Verstrickungen aller Art. Auch diese Erfahrungen können zu Objekten unserer Aufmerksamkeit werden, sodass wir uns vielleicht weniger darin verfangen oder sogar süchtig danach werden auf Weisen, die uns und anderen schaden oder uns von unseren eigentlichen Absichten ablenken.

      Und genau an dieser Stelle kommt die Achtsamkeit ins Spiel. Es ist tatsächlich eine neue Seinsweise… eine neue Weise, in Beziehung zu den Dingen zu sein, so wie sie in diesem Moment sind, ob wir die Umstände, in denen wir uns befinden, nun mögen oder nicht, und unabhängig von unseren Gedanken darüber, was diese Umstände für die Zukunft bedeuten mögen. In der Praxis können wir Nicht-Wissen erkunden; wir können lernen, darin zu verweilen, und zumindest für diesen einen Augenblick mit dem Nicht-Wissen in Frieden zu sein. Es ist eine eigene Form von tiefer und heilsamer Intelligenz, sich damit vertraut zu machen und sogar damit einverstanden zu sein, zu wissen, dass wir nicht wissen. Zum einen befreit uns das von extrem eingrenzenden oder größtenteils nicht zutreffenden Geschichten, die oft auf Angst basieren und die wir nie müde werden, uns selbst zu erzählen, aber so gut wie nie wirklich darauf hin untersuchen, ob sie tatsächlich wahr sind, oder zumindest wahr genug in Anbetracht der Umstände, in denen wir uns befinden. Die meisten Gedanken, die das Wort sollte beinhalten, fallen wahrscheinlich in diese Kategorie. Wir denken, dass die Dinge auf eine bestimmte Weise sein sollten, aber stimmt das denn überhaupt?

      Diese neue Seinsweise lädt zu etwas ein, das zunächst so wirken mag, als würden Sie sich selbst und die Welt ein klein wenig anders betrachten. Wie klein dieser Wandel auch sein mag, er ist zugleich auch riesig, tiefgreifend und vielleicht sogar befreiend, so wie er es für Margaret Donald war, die Verfasserin des obenstehenden Briefes. Wenn Menschen, oft sehr emotional, davon sprechen, dass die Praxis ihnen ihr Leben zurückgegeben oder es gerettet habe, nehme ich an, dass sie sich auf diesen kleinen Wandel, der gar nicht so klein ist, hin zu einer neuen Seinsweise beziehen.

      Durch stete Hinwendung, Zugewandtheit und Sanftheit – und genau darum geht es bei den formalen und informellen Achtsamkeitsübungen, die in Teil 2 detailliert beschrieben werden – sind wir nun in der Lage, Achtsamkeit als Seinsweise zu leben. Wenn Achtsamkeit ein Diamant mit vielen Facetten wäre, dann könnte man sich jedes Kapitel in diesem Buch als eine von potenziell unendlich vielen einzigartigen Facetten vorstellen, von denen eine jede eine Eintrittspforte in die kristalline Struktur Ihrer eigenen Ganzheit und inneren Schönheit darstellt.

      Man könnte aber auch eine andere Metapher verwenden und sagen, dass Achtsamkeit uns eine Reihe von fein geschliffenen Linsen anbietet, durch die wir einen Blick darauf werfen können, wie wir das, was in unserem Leben auftaucht, sei es erwünscht oder unerwünscht, in jedem

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