Leben wir in einer Illusion?. Lutz Gaudig
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Leben wir in einer Illusion? - Lutz Gaudig страница 6
Das Gebrüll des Tigers von Sonnenaufgang her, durch den Spalt des Höhleneinganges, holte ihn zurück, zurück in eine gefährliche Wirklichkeit.
Sein Messer war besser als alle anderen Waffen, die sie besaßen.
Es war besser als alle Faustkeile, alle Fallgruben und langen Schlagstöcke nebst den ledernen Fangseilen.
Ein Tiger – sein Messer könnte ihn töten mit zwei, drei Stichen.
Aber seine Arme waren zu kurz.
In die Reichweite der Pranken des Tieres zu kommen war absolut tödlich. Ein, zwei Hiebe, das war’s.
Er brauchte längere Arme.
Vielleicht half es, wenn er jeden Tag an einem Ast hing und die Sippe ihn nach unten zog.
Er dachte an Aaron, betete zu ihm der längeren Arme wegen.
Und Aaron erschien, hob ihn hoch.
Nui umfasste einen quer wachsenden starken Ast und umklammerte ihn, während der Bär an ihm zog.
Seine Arme wurden länger und länger, wie Schlagstöcke, an deren Ende seine Hand das Messer hielt.
Funkensprühend knackte der Kiefernast im Feuer.
Nui schreckte hoch aus seinem Sekundenschlaf, beschämt wegen der Pflichtverletzung.
Sein Blick schweifte durch das rot flackernde Dämmerlicht.
Alles war friedlich.
Die Sippe schlief, einige schnarchten.
Koa erzählte leise im Schlaf, wie so oft.
Nuis Blick blieb in der Ecke hängen.
Dort standen die Schlagstöcke, mannshoch und armstark.
Armstark waren sie und lang.
Er sah seine Hand an deren Spitze.
Die Hand hielt sein Messer.
Leise schlich er hinüber und suchte sich den besten aus.
Es machte erhebliche Mühe, mit dem Feuersteinmesser die Kerbe in das Stockende zu raspeln.
Aber am Morgen war es geschafft.
Als die ersten Sonnenstrahlen in die Höhle drangen, hielt er ihnen seinen „Speer“ entgegen, was „langer Arm“ bedeutete.
Sein Messer steckte in der Spitze des mannshohen, armdicken Stockes. Die Lederbänder des ehemaligen Griffes hielten es im Holzspalt sorgsam fest.
Er trat aus der Höhle und freute sich darauf, dem Tiger zu begegnen.
Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht sagen, ob Nui es geschafft hat, seine Sippe von dem Tiger zu befreien, und ob er den Kampf überlebte. Eines aber hat auf jeden Fall überlebt: seine Erfindung und die beiden Prinzipien seines Menschseins.
Wie wir an Nui gesehen haben, zeichnen wir Menschen uns durch zwei wesentliche Eigenschaften vor allen anderen Lebewesen aus.
Wir versuchen, seit unser Bewusstsein zündete, unsere Welt und die Vorgänge darin zu erklären.
Wir tun dies in Modellen.
Ob diese richtig oder falsch sind, zeigt sich daran, ob sie alle neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse widerspruchsfrei erklären können.
Diese Vorgehensweise nennt man „modellhaften Realismus“.
Die jeweiligen Modelle entsprechen immer dem Zeitgeist und dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand der entsprechenden Epoche.
Zweitens sind wir ständig dabei, unsere Welt nach unseren Vorstellungen zu verändern.
Dabei ist es egal, ob wir gerade einen Feuersteinspeer planen oder die Software für ein komplexes Medizinprojekt schreiben.
Beiden Aktivitäten ist gemeinsam, dass es unsere Gedanken sind, die die neue materielle Wirklichkeit vorabbilden und damit letztendlich schaffen.
Die Veränderung in unserer Raumzeit erfolgt erst, nachdem wir den Bauplan dazu in unserem Bewusstsein erarbeitet haben.
Aber am Anfang waren es die intuitiven Lösungen, zufällig und vom Augenblick abhängig.
Es sollte noch sehr, sehr lange dauern nach der Erfindung des Feuersteinspeeres durch Nui.
Es mussten noch viele Tausende von Jahren vergehen, und nicht weniger Generationen mussten kollektives Wissen anhäufen, bevor die Menschheit beginnen konnte, sich das mächtigste Instrument zu schaffen, zu dem sie fähig ist. Ein Instrument, mit dem wir die Welt nach unseren Wünschen verändern können – die wissenschaftliche Forschung.
Was die alten Griechen schon wussten
Blicken wir auf der Zeitskala der Menschheitsentwicklung zurück, dann ist es kurz vor zwölf, als der menschliche, kollektive Geist förmlich explodierte.
Wir befinden uns etwa 500 Jahre vor Christus in Ionien.
Die kleinasiatischen griechischen Kolonien sind wirtschaftlich stark.
Ihre Macht und ihr Einfluss reichen weit nach Westen, bis nach Italien.
Zu dieser Zeit haben Mathematik, Astronomie und Philosophie Konjunktur, sollen sie doch helfen, Wirtschaft und Ansehen zu stärken.
Es entstehen Denkerschulen, die ihre Ideen weit über die griechischen Staaten hinaus verbreiten werden.
Es entsteht die Ionische Wissenschaft.
Zum ersten Mal in der Geschichte versuchen Menschen, Naturereignisse durch fundamentale Gesetze zu erklären.
Thales von Milet war der Erste, der behauptete, dass sich all die komplizierten Ereignisse um uns herum auf einfache Prinzipien zurückführen lassen. Das Wichtigste aber ist: Seine Prinzipien kamen allesamt ohne mystische Zutaten aus.
Nach ihm ist Wasser der Anfang und Urgrund aller Dinge.
Anaximander führte den Begriff des „Kosmos“ ein.
Als bedeutender Astronom seiner Zeit entwarf er als Erster eine rein physikalische Kosmogonie.
Er war der Erste, der die Welt mit dem Wort „Kosmos“ bezeichnete.
Anaximander beschrieb ihn als „planvoll geordnetes Ganzes“.
Und dann entwickelte Empedokles seine „Vier-Elemente-Lehre“.
Danach besteht alles Sein aus den vier Grundelementen Feuer, Wasser, Luft und Erde.
Zusätzlich schrieb er den Elementen aber noch eine Eigenart zu, die unseren heutigen Elementen aus dem Periodensystem entspricht.
Er nahm