Der Gaslight-Effekt. Robin Stern

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Der Gaslight-Effekt - Robin Stern

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ist. Und der Kerl, der nach dem Weg gefragt hat? Der wollte sie doch bloß anbaggern – sie hätte mal sehen sollen, wie er ihr hinterhergegafft hat, kaum hatte sie sich umgedreht. Außerdem ist ein solches Verhalten total respektlos ihm gegenüber. Er ist schließlich ihr Freund. Was glaubt sie denn, wie er sich fühlt, wenn sie jedem Typ, der vorbeikommt, schöne Augen macht?

      Anfangs lacht Katie noch über Brians Gejammer. Sie ist doch schon immer so, sagt sie ihm, und sie ist einfach gern freundlich. Aber nach Wochen unerbittlicher Kritik beginnt sie, an sich zu zweifeln. Vielleicht lachen und gaffen die Leute ja wirklich hinter ihrem Rücken. Vielleicht flirtet sie ja wirklich dreist vor den Augen ihres Freundes – wie gemein, den Mann, der sie liebt, so zu behandeln!

      Irgendwann weiß Katie nicht mehr, wie sie sich verhalten soll. Sie will nicht auf ihre offene, freundliche Art gegenüber anderen verzichten – aber jedes Mal, wenn sie jetzt einem Fremden zulächelt, fragt sie sich, was Brian wohl denken würde.

      Liz arbeitet in einer Spitzenposition in der Werbung. Eine elegante Frau Ende 40, die seit 20 Jahren glücklich verheiratet ist und keine Kinder hat. Sie hat hart für ihre Karriere gearbeitet. Jetzt scheint sie ihrem Ziel nahe zu sein, denn sie steht kurz davor, das New Yorker Büro der Firma zu übernehmen.

      In letzter Minute bekommt jedoch ein anderer den Job. Liz schluckt ihren Stolz herunter und bietet sich an, ihm beizustehen. Zuerst scheint der neue Chef auch charmant und dankbar zu sein. Doch bald merkt Liz, dass sie bei wichtigen Entscheidungen außen vor gelassen und nicht mehr zu den wichtigen Meetings eingeladen wird. Gerüchten zufolge wird den Kunden erzählt, sie wolle nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten. Man solle sich lieber direkt an den neuen Chef wenden. Als sie sich bei den Kollegen beschwert, schauen die sie nur befremdet an. »Aber er lobt dich immer in den Himmel«, heißt es. »Warum sollte er so was Nettes sagen, wenn er dich auf dem Kicker hat?«

      Schließlich stellt Liz ihren Chef zur Rede, der eine plausible Erklärung für jeden Vorfall hat. »Hör mal«, sagt er am Ende des Treffens, »ich glaube, du nimmst dir das viel zu sehr zu Herzen – das ist ja fast schon paranoid. Willst du dir ein paar Tage freinehmen, um den Stress abzubauen?«

      Liz kommt sich total unfähig vor. Sie weiß, dass sie sabotiert wird – aber warum ist sie die Einzige, die das zu merken scheint?

      Mitchell ist Mitte 20 und studiert Elektrotechnik. Er ist groß, schlaksig und obendrein schüchtern. Er ist seit Langem auf Partnersuche, aber endlich hat er eine Frau kennengelernt, die er wirklich mag. Eines Tages weist seine Freundin dezent darauf hin, dass Mitchell sich immer noch wie ein kleiner Junge kleidet. Mitchell ist gekränkt, doch er versteht, was sie meint. Schon ist er im nächsten Kaufhaus, wo er sich von einem Personal Shopper eine komplette Garderobe zusammenstellen lässt. In dieser Kleidung fühlt er sich wie ein neuer Mensch – weltgewandt und attraktiv –, und er genießt die bewundernden Blicke der Frauen auf der Busfahrt nach Hause.

      Doch als er die neuen Kleider zum sonntäglichen Abendessen bei seinen Eltern trägt, platzt seine Mutter fast vor Lachen. »Ach, Mitchell, das ist ja gar nichts für dich – du siehst lächerlich aus«, sagt sie. »Wenn du das nächste Mal einkaufen gehst, Kind, dann sag mir bitte Bescheid.« Als Mitchell verletzt reagiert und eine Entschuldigung verlangt, schüttelt sie traurig den Kopf. »Ich wollte dir nur helfen«, sagt sie. »Und ich finde, du solltest dich entschuldigen für diesen Tonfall.«

      Mitchell ist verwirrt. Ihm gefällt seine neue Kleidung – aber vielleicht sieht er wirklich lächerlich aus. Und war er tatsächlich grob zu seiner Mutter?

      Katie, Liz und Mitchell haben eins gemeinsam. Sie alle leiden unter dem Gaslight-Effekt. Zu diesem Effekt kommt es zwischen zwei Menschen: einem Gaslighter, also »Gasanzünder«, der einwandfrei funktionieren muss, um den Sinn für sein eigenes Selbst zu bewahren und sich weiter seiner Macht über andere zu versichern. Und dem Gaslightee, also »Angezündeten«, der dem Gaslighter erlaubt, Einfluss auf seine Wirklichkeitswahrnehmung zu nehmen, weil er ihn verklärt und seine Zustimmung sucht. Diese zwei können beiden Geschlechtern angehören, und Gaslighting kann in jeder Art Beziehung vorkommen. Aber ich werde den Gaslighter mit »er« bezeichnen und den Gaslightee mit »sie«, weil ich diese Konstellation am häufigsten in meinem Berufsleben antreffe. Wir werden eine ganze Reihe von Beziehungen näher betrachten – zu Freunden, Familie und Kollegen. Aber im Zentrum wird doch die Beziehung zwischen Mann und Frau stehen.

      So besteht Katies Freund zum Beispiel darauf, dass es auf der Welt gefährlich zugeht und dass Katies Verhalten unangemessen und taktlos ist. Wenn er gestresst ist oder sich bedroht fühlt, dann muss er in diesen Punkten recht haben, und er muss Katie dazu bringen, ihm zuzustimmen. Katie legt Wert auf ihre Beziehung und will Brian nicht verlieren. Also fängt sie an, die Dinge von seinem Standpunkt aus zu betrachten. Vielleicht lachen die Leute ja wirklich über sie. Vielleicht flirtet sie wirklich zu gern. So fängt es an mit dem Gaslighting.

      Auch Liz’ Chef beharrt darauf, dass er ihr wirklich zugetan ist. Bedenken habe sie nur, weil sie paranoid ist. Liz möchte, dass ihr Chef eine gute Meinung von ihr hat. Schließlich geht es um ihre Karriere. Also zweifelt sie allmählich an ihrer eigenen Wahrnehmung und versucht, sich seine zu eigen zu machen. Aber die Ansichten ihres Chefs ergeben für Liz keinen Sinn. Wenn er wirklich nicht versucht, sie zu sabotieren, warum verpasst sie dann all die Meetings? Warum rufen ihre Kunden sie dann nicht mehr zurück? Warum ist sie dann so verwirrt und besorgt? Liz ist so treuherzig, dass sie sich einfach niemanden vorstellen kann, der so offenkundig manipuliert, wie ihr Chef es anscheinend tut. Es muss also an ihr liegen, denn was sonst könnte eine solch fürchterliche Behandlung rechtfertigen? Sie wünscht sich verzweifelt, ihr Chef möge recht haben. Eigentlich aber weiß sie, dass es nicht so ist. Liz ist völlig verunsichert darüber, was sie sieht und zu wissen meint. Bei ihr ist das Gaslighting in vollem Gang.

      Mitchells Mutter beharrt auf dem Recht, ihrem Sohn alles sagen zu dürfen, was sie will. Und wenn er widerspricht, ist das unhöflich. Mitchell möchte in seiner Mutter gern einen guten, liebevollen Menschen sehen und nicht jemanden, der gemeine Sachen zu ihm sagt. Wenn sie ihn verletzt, dann gibt er sich die Schuld daran, nicht ihr. Mutter und Sohn sind sich einig: Die Mutter hat recht, Mitchell hat unrecht. Zusammen arbeiten sie so am Gaslight-Effekt.

      Natürlich hätten Katie, Liz und Mitchell andere Möglichkeiten. Katie könnte die negativen Kommentare ihres Freundes einfach überhören oder ihn bitten, sie zu unterlassen. Als letzte Möglichkeit könnte sie auch mit ihm Schluss machen. Liz könnte sich sagen: »O Mann, der neue Chef ist ein hartes Stück Arbeit. Mit seinem Geschleime hat er vielleicht alle anderen hier hinters Licht geführt – aber nicht mich!« Mitchell könnte seelenruhig verlangen, »Sorry, Mom, aber du schuldest mir eine Entschuldigung.« Alle drei könnten beschließen, dass sie im Grunde bereit wären, mit dem Missfallen der Gaslighter zu leben. Selbst wissen sie schließlich, dass sie gute, tüchtige und liebenswerte Menschen sind, und das ist ja wohl entscheidend.

      Wären unsere drei Betroffenen in der Lage, diese Haltung einzunehmen, dann gäbe es kein Gaslighting. Die Gaslighter würden vielleicht immer noch schlecht handeln, doch ihr Verhalten hätte nicht länger solch schädliche Auswirkungen. Gaslighting funktioniert nur, wenn man glaubt, was der Gaslighter sagt, und wenn man will, dass er gut von einem denkt.

      Aber Gaslighting ist heimtückisch. Es spielt mit unseren schlimmsten Ängsten, unseren furchtsamsten Gedanken, unserem sehnlichen Wunsch danach, verstanden, geschätzt und geliebt zu werden. Wenn jemand, den wir respektieren oder lieben, sehr sicher in seinen Aussagen ist – insbesondere wenn ein Körnchen Wahrheit in seinen Worten steckt oder wenn er einen wunden Punkt bei uns trifft, dann kann es sehr schwer sein, ihm nicht zu glauben. Und wenn wir den Gaslighter auch noch verklären – wenn wir in ihm die Liebe unseres Lebens, einen bewundernswerten Chef oder ein wunderbares Elternteil sehen wollen –, dann fällt es noch schwerer, am eigenen

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