Brücke sein. Christian Herwartz

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Brücke sein - Christian Herwartz

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beginnt erst, wenn vorgängig zu Fragen etwas gelebt wird – wenn ich auf etwas stoße, was mich stutzig macht, befremdet und doch auch anzieht. Etwas, was mich fragend macht. Im Falle der Wohngemeinschaft in der Naunynstraße – jener Ort in Berlin, der inzwischen so viele fragend gemacht hat – war mein Weg zum Fragen lang. Denn es mussten einige Dinge in der Annäherung an das fragwürdige Geschehen in der Naunynstraße geklärt werden. Christian erzählt davon in diesem Buch. Es betrifft nicht nur den unterschiedlichen Zugang zum Thema Rote Armee Fraktion (RAF), sondern auch unterschiedliche Ausgangspositionen zu politischen und kirchlichen Fragen aller Art, die in den 70er- und 80er-Jahren im Schwange waren und heute noch keineswegs erledigt sind.

      Bei der Annäherung an die Wohngemeinschaft in der Naunynstraße ging es von Anfang an auch um spirituelle Fragen und Unterscheidungskriterien. Das eine war für mich anfangs eine notwendige Abgrenzung: Bewunderung, gar Schwärmerei über Personen führt zu Missverständnissen und auch zu Missbräuchen, gerade im religiösen Bereich. Da ich Bewunderer und Schwärmer im Umfeld der Naunynstraße sah oder meinte zu sehen, hielt ich Abstand. Dass ich an dieser Stelle besonders empfindlich war (und geblieben bin), hat mit meiner eigenen Geschichte zu tun. Ich war selbst einmal ein Bewunderer gewesen und das Bewundern war missbraucht worden. Auch im kirchlichen Bereich kann es ja immer wieder zu Missbrauch in geistlichen Beziehungen und in geistlichen Gemeinschaften kommen, die sektiererischen Charakter gerade deswegen haben, weil die geistlichen Machtstrukturen in ihnen aus Machtmissbrauch entstehen, Missbrauch fördern und zugleich Missbrauch decken.

      Das andere war: Ich erlebte in meinem vertrauten Umfeld, dass das Zusammenleben in der Naunynstraße Außenstehende provozierte. Was immer man im Einzelnen über Projekte und Aktivitäten sagen wollte, die im Laufe der Jahre in der Naunynstraße entstanden sind, so war und ist doch der eigentlich herausfordernde Ursprung, aus dem das alles kam, die Weise des Zusammenlebens – die Offenheit, die Gastfreundschaft, die schiere Menge der Bewohnerinnen und Bewohner auf engstem Raum, der Blick auf den Anderen und auf Jesus. Beim Anblick dieses Zusammenlebens entstand und entsteht zunächst bei vielen das Gefühl: »So sollte ich eigentlich auch leben – aber ich kann es nicht.« Ein Jesuit, der 2003 in die Kommunität am Canisius-Kolleg einzog und inzwischen verstorben ist, besuchte die Wohngemeinschaft in der Naunynstraße zum samstäglichen Frühstück und kam aus der Verwunderung nicht heraus über die vielen Männer, die nacheinander in der Tür des gemeinsamen Schlafzimmers erschienen. Zum Schluss rief er mit einer Mischung aus Bewunderung und Überforderung: »So könnte ich nicht leben!« Darauf hörte er die Antwort: »Woher weißt du das? Du hast es doch noch nie probiert!«

      Eine Lebensweise kann wie ein Vorwurf empfunden werden, einfach dadurch, dass sie so gelebt wird. Das hat im Falle der Naunynstraße oft dazu geführt, dass es zu dem kleinen, aber entscheidenden Fehlschluss kam: »Die leben so, um uns zu provozieren.« Das ist dann eine Ursache für Misstrauen, Vorwürfe und Ablehnung. Meine Antwort auf die Provokationsbotschaft lautete: »Zur Provokation gehören zwei – der, der provoziert, und der, der sich provozieren lässt.« Als ich im Herbst 1994 die Naunynstraße aufsuchte, war es dann so weit. Christians Schul- und Canisius-Kolleg-Trauma brach bei der ersten Begegnung durch, und er sagte zunächst einmal statt »Guten Tag« bloß: »Brrrrr, Lehrer!« Ich dachte mir: »Du kannst mich mal – ich bleibe weiterhin Lehrer.« Und dann begannen wir, über Gefangene zu sprechen. Dabei stieß ich auf eine Schlüsselbotschaft, die ich akzeptieren konnte: Gefangene besuchen ist vor dem Hintergrund des Evangeliums nicht begründungspflichtig. Der eine musste sein Lehrersein nicht rechtfertigen, der andere musste seine Gefangenenbesuche nicht rechtfertigen. Das war eine gute Ausgangsbasis. Das war der Anfang, in gegenseitiger Freiheit. Und dann war für mich der Weg klar: Wir diskutieren nicht über unterschiedliche Meinungen, sondern wir beginnen, gemeinsam etwas zu tun, in kleinen Schritten: Gefangene besuchen, Schule öffnen, Brüder und Schwestern suchen, auf die Straße gehen, Verbündete suchen, Einladungen annehmen und so weiter.

      Noch ein Geleitwort möchte ich den Leserinnen und Lesern sagen: Es geht in diesem Buch darum, sich bedeutenden gesellschaftlichen Fragen über die eigene Erfahrung zu nähern, und nicht bloß über Zeitungsartikel, Expertenwissen und anderes Wissen aus dritter Hand. Zwischen dem Wissen aus eigener Erfahrung und dem Wissen aus dritter Hand besteht kein grundsätzlicher Gegensatz. Oft habe ich aber erlebt, dass das eigene Erfahrungswissen abgewertet wird oder diejenigen, die damit argumentieren, eingeschüchtert werden mit dem Hinweis auf Expertenwissen, das angeblich viel mehr über die gesellschaftliche Wirklichkeit aussage als die eigene Erfahrung. In der bildungspolitischen Debatte habe ich in den letzten 15 Jahren häufig erlebt, dass das Erfahrungswissen von Lehrenden in den Diskussionen um die Konsequenzen aus PISA, TIMM und anderen OECD- oder Bertelsmann-Studien nicht willkommen war. Umgekehrt ließen sich dann viele Lehrende an der Basis einschüchtern von den gewaltig auftretenden Expertisen und Experten, die genau wussten, wie es eigentlich gehen müsste. Doch Erfahrungswissen nicht ernst zu nehmen bedeutet letztlich, Menschen mit ihren Erfahrungen zu entmündigen. Ein Beispiel: Der Arbeiter Georg Elser versuchte 1939, die NS-Führung im Münchner Bürgerbräukeller durch ein Attentat auszuschalten. Er hatte schon ganz früh begriffen, dass Hitler auf Krieg zusteuerte. Das Attentat scheiterte, Elser wurde hingerichtet. Bis in die 90er-Jahre hinein wurde ihm bestritten, aufgrund von eigener Erkenntnis und Einsicht gehandelt zu haben – denn das könne ja nicht sein, dass ein einfacher Arbeiter ohne politisches Expertenwissen so sicher habe voraussehen können, dass Hitlers Politik in den Krieg führen würde.

      Einer meiner philosophischen Lehrer wird immer wieder mit dem Satz zitiert: »Erfahrung macht dumm.« Das gilt denjenigen, die sich keiner neuen Anfrage oder Erkenntnis mehr öffnen wollen, weil sie angeblich »aus Erfahrung« wissen, dass alles Neue nicht klappen kann und nur Unordnung schafft. Aber andererseits gilt auch, dass nur Erfahrung wirklich dazu führt, dass man mit »Vollmacht« sprechen kann, so wie Jesus: »Er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten.« (Markus 1,22) Gerade dem »Neuen«, dem Weiterführenden, dem »Geist« begegne ich in der eigenen Erfahrung, in der ich ganz in Anspruch genommen werde. Karl Rahner, ein wichtiger Jesuitentheologe des letzten Jahrhunderts, beschrieb den »Mystiker« als einen Menschen, der »etwas erfahren hat«, was mit Gott zu tun hat. Erfahrungen mit Gott aber sind niemals bloß »private« Erfahrungen, sondern drängen zur Mitteilung. Christian Herwartz reflektiert in diesem Buch gesellschaftliche Themen über den Weg der eigenen Erfahrungen. Ihnen kommt eine eigene Autorität zu, auch für den Erzählenden selbst. Durch dieses Reflektieren und Erzählen wird Christian zum Lehrer – ohne dass er es beabsichtigt. Aber es ist die Wirkung, die er zulassen muss, wenn er das Buch in die Hände der Leserinnen und Leser legt.

      Klaus Mertes

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      I. FREIHEIT SUCHEN

      Über Macht, den Missbrauchsskandal und die Erneuerung in der katholischen Kirche

      Wir leben in einer Zeit, in der sehr deutlich ist, wie sehr die Kirche und die Gesellschaft insgesamt eines neuen Umgangs mit Macht(ausübung) bedürfen.

      Eines der Zeichen, das sehr klar auf die Notwendigkeit einer Veränderung hingewiesen hat und es noch tut, ist die jetzt erst offen geführte Debatte um sexuellen Missbrauch in Zusammenhang mit Macht. Der Jesuitenorden hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Was ich davon miterlebt habe, möchte ich hier berichten. Weniger um des Ereignisses selbst willen, sondern um zu zeigen, dass auch große Veränderungen – wie der veränderte Umgang mit Missbrauch in der katholischen Kirche – aus vielen kleinen Schritten Einzelner bestehen.

      Im Jahr 2010 blickte ganz Deutschland auf das Canisius-Kolleg in Berlin. Die Schule wird von Jesuiten geführt. Missbrauchsopfer aus den Reihen der ehemaligen Schüler hatten sich zu Wort gemeldet und trafen beim damaligen Rektor Klaus Mertes auf die vormals verweigerte Bereitschaft, ihnen zuzuhören und Glauben zu schenken. Eine Riesenwelle weiterer Opfermeldungen kam in Gang. Das Thema bekam viel Aufmerksamkeit in der Presse und Öffentlichkeit, und für uns Jesuiten begann eine sehr kontroverse Auseinandersetzung

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