Tamy. Simone Kosog

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Tamy - Simone Kosog

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      Manchmal sagte Charlotte diesen Satz zu mir. Ich wusste nie genau, was sie damit meinte.

      Meistens fiel der Satz an einem der Tage, an denen ich aufgelöst nach Hause kam, entweder, weil ich den Viertklässlern, die mich gejagt hatten, gerade so entkommen war, oder weil sie mich dieses Mal tatsächlich verprügelt hatten. Beides kam regelmässig vor.

      Mal waren es die Mädchen, mal die Jungs. Klar war, dass sie sich aus all den Erstklässlern genau mich herausgepickt hatten, kein Versehen. Ich kannte das schon aus dem Kindergarten. Bereits am allerersten Tag war es losgegangen. Ich hatte für dieses besondere Ereignis ein rosa Röckchen ausgewählt, das ich in einem Geschäft gesehen hatte und unbedingt haben wollte. Abgesehen von einem Tutu, ebenfalls in Rosa und ebenfalls heiss begehrt, war das der einzige Rock, den ich je freiwillig angezogen habe. Ich fand ihn wunderschön – die anderen Kinder fanden das ganz offensichtlich nicht. Sie nutzten die erstbeste Gelegenheit, mich draussen, als kein Erwachsener zusah, hin- und herzuschubsen und in den Matsch zu werfen. Als ich nach Hause kam, weinte ich. Das rosa Röckchen war dreckig und zerrissen, ich zog es nie wieder an.

      Auch jetzt, während der Schulzeit, kamen sie immer zu mehreren, mal warfen sie mich in einen Dorfbrunnen, mal klauten sie mein Fahrrad und warfen es in eine Mülltonne, mal traten, schubsten oder schlugen sie mich.

      Auf meinem Schulweg lag ein grosses Feld, über das ich meist nach Hause ging. Eine Abkürzung, denn gleich dahinter begann unser Grundstück. Für meine Widersacher war das der perfekte Ort, mir klarzumachen, was sie von mir hielten. Ich weiss noch, wie ich einmal an einem Wintertag dort entlang ging, als ich sie schon von weitem kommen sah. Ich rannte so schnell ich konnte, nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, um mein Leben zu rennen. Aber die anderen, dieses Mal waren es zwei Mädchen, waren doppelt so gross und doppelt so schnell. Doppelt so stark waren sie auch: Sie warfen mich in den Schnee, drückten mich nach unten und schaufelten mir mit den Händen Schnee ins Gesicht, immer wieder, bis mein Gesicht vollständig bedeckt war. Ich konnte nichts mehr sehen und bekam keine Luft mehr. Zum Glück hatte unser Gärtner gerade draussen gearbeitet, er rannte los und schrie. Die beiden liefen weg. Nochmal davongekommen.

      Zuhause sprach ich wenig von den Übergriffen, aber dennoch liess es sich nicht vermeiden, dass meine Pflegeeltern etwas davon mitbekamen. «Du bist eben anders!», sagte Charlotte, meine Pflegemutter. Der Satz sollte mich trösten, so viel verstand ich immerhin. Anders zu sein war in ihren Augen nichts Negatives, sondern hob mich hervor aus dem Gewöhnlichen und machte mich für sie zu einem sehr speziellen, liebenswerten Menschen. Ich vermutete damals, dass ihre Worte auf meine besondere Lebenssituation anspielten. Meine leibliche Mutter lebte weit weg in den USA und arbeitete mit lauter berühmten Menschen zusammen. Ich konnte nicht mit ihr zusammenleben, sondern war bei Charlotte und Heinz zuhause.

      Aber je älter ich wurde, desto deutlicher offenbarte sich mir, dass Charlotte neben all dem und wahrscheinlich sogar in erster Linie mein Aussehen meinte, oder besser: meine ganze Art zu sein.

      Ich hatte eine dieser dicken Brillen, die die Augen riesig machen, und nicht nur das: Sie hatte kreisrunde Gläser und der Rahmen war Weiss, Lila und Rosa gemustert. Meine Hautfarbe war viel dunkler als die der anderen Kinder, viel dunkler auch, als sie heute ist. Mein Grossvater mütterlicherseits stammt aus Nigeria, und damals sah man deutlich, dass es da irgendeinen Einschlag gab, wenngleich er nicht wirklich zuzuordnen war. Die Kinder riefen mir «Brillenschlange» hinterher und: «Wasch dich mal, deine Haut ist dreckig!»

      Ausserdem war ich jungenhaft, hatte kurze Haare, trug Hosen, nie Röcke, nach dem Kindergarten-Debakel erst recht nicht mehr, bewegte mich auch wie ein Junge. Manchmal beglückwünschten die Leute meine Pflegeeltern oder, in den seltenen Momenten, wo wir zusammen waren, auch meine Mama zu ihrem «hübschen Sohn», was sowohl meine Pflegeeltern als auch meine Mama schnell korrigierten, während es mich nie störte. Eigentlich fand ich es sogar ganz cool.

      Meistens zog ich morgens irgendwelche Klamotten aus dem Schrank. Am wichtigsten war es mir, dass ich mich wohlfühlte. Es gab ein paar Anziehsachen, die ich besonders gerne mochte, aber die gefielen den anderen Kindern selten, was sie regelmässig mit Spott und fiesen Bemerkungen kommentierten.

      Ich fand mich nicht besonders schön. Ehrlich gesagt, fand ich mich sogar hässlich, aber es machte mir nicht viel aus. Mein Aussehen war keine wichtige Kategorie für mich, es war nichts, worüber ich mir besonders viele Gedanken machte.

      Kein Kind bei uns im Dorf war so.

      In meiner Klasse kam ich noch halbwegs klar. Ich war nicht wirklich eine Aussenseiterin und zum Beispiel immer gut im Sport, sodass ich nie in die erniedrigende Situation kam, als letzte gewählt zu werden. Aber man fand mich definitiv nicht cool und wollte ganz sicher nicht mit mir befreundet sein.

      Ausserhalb der Klasse reizte allein meine Anwesenheit die Kinder offenbar so sehr und entfachte ihre Wut und Ablehnung dermassen, dass sie regelmässig alle ihre Hemmungen vergassen. Ich glaube nicht, dass sie mit dieser Haltung auf die Welt gekommen waren. Ganz früh, als ich noch die Krippe besuchte, waren die Kinder unbekümmert auf mich zugekommen, hatten mich selbstverständlich akzeptiert. Sie hatten damals weder ihre eigene Persönlichkeit noch die der anderen mit vorherrschenden Rollenbildern abgeglichen. Aber bald schon begannen Eltern, Nachbarn, Freunde, Werbeplakate und Medien damit, ihre Botschaften zu hinterlassen. Meine Mitschüler wussten bereits sehr genau, was die Gesellschaft für ein Mädchen vorgesehen hatte, wie es sich anzuziehen, zu bewegen, zu verhalten, und wofür es sich zu interessieren hatte. Davon abzuweichen, war nicht vorgesehen.

      Doch egal wie bedrohlich die Situation war, egal wie erdrückend die Übermacht: Mich unterzuordnen und die Schläge über mich ergehen zu lassen war nie eine Option. Vielmehr hatte ich das Gefühl, die Stellung halten zu müssen. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, schlug und trat zurück. Das war keine Haltung, die ich mir angeeignet hatte, sondern einfach meine Art zu reagieren. Ich habe keine Ahnung, wem meiner Vorfahren ich diese Stärke zu verdanken habe oder woher diese Energie sonst kommt, aber ich bin sehr dankbar dafür. Es war wohl diese Art zu reagieren, die mich davor bewahrte, ein trauriges Kind zu werden. Denn abgesehen von diesen unberechenbaren Überfällen, die sich durch meine gesamte Grundschulzeit zogen, ging es mir gut in meiner Welt, so verdreht sie für andere auch ausgesehen haben mag.

      Dass mein Leben nicht unbedingt gradlinig verlaufen sollte, zeichnete sich schon bei meiner Geburt ab. Es war Ende Dezember 1984, als sich meine Mama und ihre Freunde in einen alten Fiat Panda quetschten, um nach Paris zu fahren und dort Silvester zu feiern. Meine Mama war damals 21 Jahre alt und neugierig auf das Leben. Mit 18 hatte sie angefangen zu modeln und war das erste farbige Model überhaupt, dass von der Agentur Elite unter Vertrag genommen wurde, ohne dass sie allerdings viel Aufhebens darum gemacht hätte. Das war für sie einfach kein Thema. Sie arbeitete unter anderem für Jean Paul Gaultier und Givenchy, Labels, für die auch ich später modeln sollte.

      Im Gegensatz zu mir hatte meine Mutter durch ihr Aussehen nie Probleme und wurde wegen ihrer Herkunft nicht infrage gestellt. Zwar war ihre Haut dunkler als die der anderen Schweizer Kinder, aber sie war ein Mädchen, das von allen als süss und exotisch wahrgenommen wurde, und wenn doch mal jemand komisch guckte, waren drei enge Freunde zur Stelle, um sie zu verteidigen. Später, als junge Frau, zog meine Mutter dann ganz andere Blicke auf sich mit ihren schwarzen Haaren, den vollen roten Lippen und ihrem hellen Teint. Sie erzählte mir oft, dass sie eine Prinzessin sei, da ihr Vater in Nigeria den Status eines Königs habe. Meine Oma hatte ihn während des Studiums in Oxford kennengelernt, wo er aber, so geht die Geschichte weiter, nicht bleiben konnte, weil er zurück nach Nigeria musste, um über sein Volk zu regieren. Ich war mir nie sicher, ob das alles stimmte, bis ich viele Jahre später bei meiner Mutter eine edle, aufwendig geschnitzte und verzierte Holzkiste entdeckte, in der sich eine Urkunde befand, auf der sie tatsächlich als Prinzessin bezeichnet wurde. Damals jedenfalls

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