Tamy. Simone Kosog
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So wurde eine weisse Villa mit Pool, Garten und eigenem Wald endgültig mein Zuhause. Heinz und Charlotte wurden auch offiziell meine Pflegeeltern – das war schon deshalb wichtig, damit sie entscheidungsbefugt waren, zum Beispiel, wenn ich mal zum Arzt musste oder sonst etwas war. Wir wohnten im Dorf Stettlen im Worblental, Kanton Bern, umgeben von Feldern, Hügeln und Bergen. Aus unseren Fenstern sahen wir Wiesen, Apfel- und Kirschbäume und die Kühe unseres Nachbarn. Im Garten lagen unsere beiden Neufundländer. Unter den 1800 Einwohnern nahm mein Pflegevater eine bedeutende Rolle ein. Ihm gehörte die Kartonfabrik Deisswil, die grösste Europas, die das Dorf schon allein durch das riesige Fabrikgelände prägte. Heinz Winzenried war ein charismatischer Mann, Politiker und ein Fabrikant alter Schule mit autoritärem Führungsstil, aber auch grossem Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Arbeitern. In Stettlen und den Dörfern der Umgebung hatte er Häuser für Firmenangehörige bauen lassen. Er hat viel dazu beigetragen, dass der kleine Ort weitaus mehr zu bieten hat als alle anderen Dörfer dieser Grösse. Damals schon hatten wir einen Kindergarten, zwei Schulen, zwei Turnhallen und eine Schwimmhalle. Auch einen Kinderhort und einen Jugendtreff hat Heinz bauen lassen. Ich kenne kein anderes Dorf in dieser Grösse mit so einer Ausstattung.
Während jeder in Stettlen meinen Pflegevater kannte, wussten nur diejenigen, mit denen wir direkt zu tun hatten, wer ich war und dass ich bei ihm wohnte, und so kam es vor, dass die Leute über «den Winzenried» redeten, während ich daneben stand. Ich hörte, wie sie mit Respekt darüber sprachen, was er alles für seine Arbeiter getan hatte, wie menschennah er sei oder wie einfach und bescheiden er sich kleide. Seine Manchesterhosen überstanden viele Jahrzehnte und er zog sie auch dann noch an, wenn der Stoff an einigen Stellen schon sichtlich abgetragen war.
Und ich hörte, wie sie über die Motive seiner Wohltaten argwöhnten – Kritik, Misstrauen und Neid klangen mit – und darüber fantasierten, wie diese Reichen denn wohl wohnen würden.
Was Letzteres angeht, hätten sie ziemlich viele ihrer Vorstellungen bestätigt gefunden. Die Villa, in der mein Pflegevater bereits seit 1942 lebte, bestand aus vier Stockwerken. Unten waren unser Wohnzimmer, die Küche, das Büro von Heinz, mein Spielzimmer, die Bibliothek, das Sitzungszimmer, das kleine Esszimmer und das grosse Esszimmer, in dem Banketts abgehalten wurden. Über eine breite Treppe mit rotem Teppich, ziemlich oldschool, kam man nach oben, zu unseren Schlafzimmern. Meines war riesig, das grösste Zimmer, in dem ich je gewohnt habe. Ich hatte ein eigenes Bad, an das gleich das Bad der Angestelltenwohnung grenzte. Hier lebte ein älteres Paar aus Italien, Michele und Guiseppina, das sich um das Haus kümmerte. Micheles Arbeitskleidung bestand aus einem weissen Hemd, einem schwarzen Smoking und weissen Handschuhen. Er hätte eins zu eins den Buttler in einem englischen Film spielen können. Guiseppina war nicht weniger formvollendet angezogen, sie trug täglich ein schwarzes Kleid mit weisser Schürze. Auf unserem Esstisch hatten wir ein goldenes Glöckli stehen, mit dem wir immer klingelten, wenn wir mit einem Gang fertig waren, sodass Michele und Guiseppina kamen, abräumten und den nächsten Gang servierten. Ich stellte immer sicher, dass ich diejenige war, die klingeln durfte.
Oft passten die beiden auch auf mich auf; es gibt Videos, auf denen ich mit ihnen fliessend Italienisch spreche. Wenn ich mir das heute anschaue, verstehe ich kein Wort mehr von dem, was ich sage.
Heinz, Charlotte und ich mochten Michele und Guiseppa sehr und fühlten uns mit ihnen verbunden. Oft begleiteten sie uns auf Reisen oder wir besuchten ihre Familie in Norditalien, wo Heinz ihnen ein Haus gekauft hatte, das gross genug war, um drei Generationen zu beherbergen. Solche Dinge tat er immer wieder für die Menschen in seinem Umfeld. Er schlug Michele und Guiseppina auch vor, normale, bequeme Kleidung zu tragen, aber das lehnten sie freundlich ab.
Wir hatten einen Gärtner, einen Chauffeur, wir reisten First Class um die ganze Welt, Bali, Seychellen, Mauritius, Kenia. Oft waren wir auch auf Sardinien, wo wir ein grosses Haus an der Costa Smeralda hatten, und wenn es irgendwie ging, waren wir einmal im Jahr in den USA. Meine Mutter hatte keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung, sodass sie, wenn sie ausgereist wäre, kaum wieder hineingelassen worden wäre, und so war die einzige Möglichkeit, sie zu sehen, zu ihr zu gehen. Mal trafen wir uns in Florida, mal auf Hawaii. In den Wochen davor hielt ich es kaum aus. Wir blieben dann meist so zwischen fünf Tagen und zwei Wochen und fuhren dann zurück. Es konnte auch mal vorkommen, dass wir ein Jahr aussetzen mussten, weil Heinz zu beschäftigt war, dann sah ich meine Mama erst im nächsten Jahr wieder.
L.A. hatte für sie all das gehalten, was es versprochen hatte. Sie hatte damit begonnen, ihre Träume tatsächlich umzusetzen, Musik zu studieren und gleichzeitig eine Ausbildung zur Pilotin zu machen. Das klang auch für mich als Kind fantastisch. Und obwohl sie, nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatte, nie als Musikerin arbeitete und nach der bestandenen theoretischen Pilotenprüfung die praktische nicht mehr machen konnte, weil ihr das Geld dafür fehlte, ging es ihr blendend und sie fand dennoch ihren Platz auf der grossen Bühne. Bald schon arbeitete sie wieder als Maskenbildnerin, aber diesmal mit den besten Teams und grössten Stars.
Natürlich hätte ich meine Mutter gerne öfter gesehen und es gab Phasen, da vermisste ich sie sehr, aber ich nahm ihr das nie übel. Was hätte sie denn tun sollen? Wir telefonierten jeden Sonntag um 18 Uhr und erzählten uns aus unserem Leben. Manchmal fragte sie mich dann, ob sie lieber nach Hause kommen solle. «Nein, Mama, ist schon okay!», antwortete ich jedes Mal. Ich wollte nicht, dass sie für mich etwas aufgeben müsste. Ob sie zurückgekommen wäre, wenn ich ja gesagt hätte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich hab keine Ahnung. Die Telefonate bedeuteten uns beiden viel, wir waren uns trotz allem sehr nah – das machte es nicht unbedingt einfacher. Meistens brauchten wir ewig, um uns zu verabschieden, und sie wollte immer, dass ich diejenige war, die auflegte. Also ging das hin und her: «Hab dich lieb.» – «Ich dich auch.» – «Tschüss, bis nächste Woche.» – «Tschüss, machs gut…» Tausend Küsschen hin und her, Tausend mal ich vermiss dich, ich vermiss dich auch. Das konnte locker eine halbe Stunde dauern. Lustigerweise sollten wir dieses Ritual auch später beibehalten. Auch heute noch verabschieden wir uns überschwänglich mit vielen Liebesbeteuerungen – meine Freunde finden das sehr amüsant.
Im Gegensatz zu meiner Mutter waren Heinz und Charlotte immer da. Die Seite des grossen Mäzens, Fabrikbesitzers und Politikers, die mein Pflegevater in der Öffentlichkeit zeigte, war für mich als Kind bedeutungslos, aber ich spürte sehr wohl, wie sich die Stimmung änderte, sobald er einen Raum betrat und wie die Menschen auf ihn reagierten. Mich nannte er «ein Geschenk des Himmels», er war glücklich, dass ich bei ihnen gelandet war, und tat alles für mich. Charlotte war zwanzig Jahre jünger als er und natürlich erzählten sich die Leute ganz eifrig, dass sie nur seines Geldes wegen bei Heinz war – aber wie viel Wahrheit liegt in solchen selbstgefälligen Behauptungen?
Die beiden gingen sehr achtsam miteinander um, stritten nur selten, liebten sich. Von Zuhause aus lenkten sie die Firmengeschäfte, wie Heinz hatte auch Charlotte ihr Büro bei uns im Haus. Oft begleitete ich Charlotte, wenn sie zur Firma rüberfuhr, um etwas abzuholen, oder es kamen Geschäftsleute zu Sitzungen in die Villa.
Sobald wir wieder unter uns waren, war Charlotte eindeutig die Chefin, oder besser: Sie und ich waren das. Wir waren die einzigen Menschen in Heinz’ Leben, von denen er ein Nein akzeptierte. Zwar versuchte er manchmal zu protestieren, aber doch eher halbherzig und im Wissen, ohnehin nicht gegen uns anzukommen.
Für mich waren die beiden Familie; wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an Heinz und Charlotte. Bis ich 13 war, kroch ich nachts in ihr Bett, legte mich zu Charlotte an die Seite. Sie war mütterlich und verständnisvoll. Ich fühlte mich geborgen.
Als