Tamy. Simone Kosog

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Tamy - Simone Kosog

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sie mit den anderen auf dem Weg zu der Silvesterparty war, wohnte sie bereits wieder in Bern. Das Modeln hatte sie mehr oder weniger aufgegeben. Dass sie hochschwanger war, wusste keiner, auch nicht der junge Mann, von dem sich später rausstellen würde, dass er mein Vater ist, und der ebenfalls mit dabei war.

      Meine Mama war eine schlanke Frau und ihr Bauch wohl auch nicht riesig, sie hatte gerade mal 2,5 Kilo zugenommen. Es war ihr gut gelungen, das zu kaschieren.

      Über die Silvesterfeier sprach später niemand mehr, dafür umso mehr über die Bauchschmerzen, die meine Mutter am 2. Januar plötzlich bekam. Es mag an der holprigen Fahrt über viele Stunden im Fiat gelegen haben, dass die Wehen früher einsetzten als errechnet. Ihre Freunde, immer noch ahnungslos, brachten sie ins nächste Spital, das vor allem aus einer Unfallchirurgie bestand. Eine Geburtsstation gab es nicht, umso mehr freuten sich die Ärzte und Schwestern, dass sie dieses Mal keinen Verletzten zu versorgen hatten, sondern ein kleines Mädchen zur Welt bringen durften. Leiter der Abteilung war ein schwarzafrikanischer Arzt, was damals noch äusserst selten war. Ich finde das im Nachhinein irgendwie magisch.

      Wie alle anderen mitgereisten Freunde besuchte auch mein Vater meine Mutter im Krankenhaus, allerdings ohne mich zu sehen. Dazu würde es erst später in der Schweiz kommen. Es sollten viele Jahre vergehen, bis wir beide uns wirklich kennenlernen würden.

      Die Mannschaft bepackte den Fiat Panda und machte sich bereit für die Rückfahrt nach Bern, allerdings ohne meine Mama. Sie würde noch ein paar Tage im Spital bleiben, damit ich gut versorgt wäre, und später mit mir im Zug hinterherfahren.

      Wir wohnten zunächst in der Berner Altstadt, anschliessend zogen wir 40 Kilometer weiter in die Stadt Biel, so viel kann ich sagen. Wie es dann genau mit meinem Leben weiterging, erzählt meine Mutter anders, als es meine Pflegeeltern erzählen. Die Geschichten gehen auseinander und später würde mein Vater eine weitere Variante in den Topf werfen. Man weiss ja, dass jede Erinnerung stark persönlich gefärbt ist und bereits kurz nach einem Ereignis entscheidend von der Realität abweichen kann. Wer was glauben möchte, ist in meinem Fall durchaus entscheidend: Laut meiner Mama habe ich erst mit sechs Jahren dauerhaft bei meinen Pflegeeltern gelebt, in der Version meiner Pflegeeltern dagegen war ich bereits viel früher bei ihnen. Es gibt tatsächlich Fotos von mir als Baby, die mich in ihrem Haus zeigen, aber das sagt noch nicht viel: Dass sie schon, als ich klein war, regelmässig auf mich aufgepasst hatten, bestätigte auch meine Mama. Damals gehörte der Sohn meines Pflegevaters zu ihrem Freundeskreis und begeistert hatten sein Vater Heinz und dessen Frau Charlotte Unterstützung angeboten: «Ihr seid jung, zieht ruhig los, wir passen auf die kleine Tamy auf.»

      Immer öfter blieb ich abends bei ihnen, bald auch über Nacht und irgendwann dann noch viel länger. Auch mein damals noch potenzieller Vater war für meinen Pflegevater kein Fremder. Die Familien kannten sich schon lange, und als kleiner Junge hatte mein Vater sogar hin und wieder in dem Haus gespielt, in dem ich später aufwachsen sollte.

      Aber noch war sein Status nicht geklärt. Der Vater einer Freundin meiner Mutter, Professor im Inselspital in Bern, bot an, einen Vaterschaftstest durchzuführen. Da es damals noch nicht möglich war, die DNA abzugleichen, wurde unser beider Blut untersucht. Das Ergebnis war vor allem für meinen Vater immer noch nicht eindeutig genug: Es lag irgendwo bei 90, aber eben nicht bei 100 Prozent.

      Dann ging meine Mutter nach Köln, um dort eine Ausbildung zur Maskenbildnerin zu machen. Übereinstimmend sagen die Geschichten, dass ich ab diesem Zeitpunkt bereits unter der Woche bei meinen Pflegeeltern lebte. Meine Mutter sah ich an den Wochenenden. Für mich war das in Ordnung. Ich jammerte nicht, vermisste sie nur selten. Als Kind nahm ich meine Welt so selbstverständlich hin, wie sie sich mir bot, und meine Pflegeeltern waren grossartige Menschen, bei denen es mir gut ging.

      Auch nach meinem Vater fragte ich nicht. Als ich zwei Jahre alt war, führten die ersten Labore in London DNA-Analysen durch und mein Pflegevater unternahm einen weiteren Anlauf und schickte Genmaterial von mir und meinem Vater dorthin. Mein Vater würde später erzählen, wie er kurz darauf in die Kanzlei seines Anwalts kam und dieser eine Flasche Champagner auf dem Schreibtisch stehen hatte. Mein Vater habe sich gesetzt und gesagt: «Okay, entweder stossen wir darauf an, dass ich nicht Vater bin, oder darauf, dass ich Vater bin.» Diesmal war das Ergebnis eindeutig: Stefan Hofer, Student aus gutem Hause, 27 Jahre alt, war zu 99,98% mein Vater.

      Seine Gefühle waren wohl eher gemischt. Vor allem war da Freude, erzählte er mir später. Andererseits war er mitten im Studium, hatte Karrierepläne und ansonsten selbst noch keinen festen Stand im Leben. Wie sollte das gehen?

      Mein Pflegevater wusste eine Lösung. Er schlug ihm einen Deal vor: Er, Dr. Heinz Winzenried, würde die Verantwortung übernehmen und für mich sorgen. Es würde mir an nichts fehlen, dafür garantiere er. Die teuflische Seite des Pakts: Im Gegenzug sollte sich mein Vater dazu verpflichten, sich aus meinem Leben rauszuhalten. Er dürfte keinerlei Kontakt zu mir aufnehmen, solange ich nicht selbst danach fragen würde. Heinz hatte mit seiner ersten Frau drei Kinder gehabt, von denen zwei an einer Nervenkrankheit gestorben waren, und auch um ihren dritten Sohn hatten sie lange gebangt, bevor sie daran zu glauben wagten, dass er überleben würde. Jetzt wollte Heinz sichergehen, dass er dieses weitere Kind, das so unerwartet zu ihm und Charlotte gekommen war, nicht ebenfalls wieder verlieren würde. Wie Heinz hatte auch Charlotte bereits einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe, und für beide war die Möglichkeit, gemeinsam für mich sorgen zu dürfen, ein Wunder.

      Mein Vater willigte ein.

      Natürlich war das der bequemste aller Wege für ihn, aber ich glaube nicht, dass es ihm nur darum ging. Er sah auch, dass ich bei Heinz und Charlotte ein Leben haben würde, dass er mir in seiner aktuellen Situation nie hätte bieten können. Bereits nach kurzer Zeit habe er seine Entscheidung bereut, erzählte er mir später. Aber er war schon damals jemand, dem Prinzipien wichtig waren. So eine Abmachung ging man nicht leichtfertig ein, sondern hielt sich auch gefälligst daran. Ein Mann – ein Wort.

      Ich war noch klein, vielleicht vier Jahre alt, als Heinz und Charlotte mit mir in den Schweizerhof zum Essen gingen. Mit uns am Tisch sassen mehrere ältere Herren, darunter auch der Politiker Adolf Ogi. Einer der Männer sah mich ständig an und küsste mich dann auch noch auf den Kopf. Ich fand das merkwürdig, höchst irritierend. Auf dem Rückweg erzählte mir Charlotte, dass dies mein Grossvater gewesen sei. Jetzt war ich erst recht entsetzt: Warum hatten sie mir das nicht vorher gesagt?

      Er war in dieser Zeit der einzige Anknüpfungspunkt zu meinem Vater, aber vor allem war er einer der ganz wenigen Blutsverwandten in meinem Leben. Sonst gab es da nur noch meine Mutter und ihre Tante. Allein schon deshalb waren die Treffen mit ihm, von denen es im Abstand von einigen Jahren mehrere gab, auch für mich besonders. Ich fand es spannend, war neugierig, und, wie er mich, musterte ich ihn. Er erzählte mir auch von meinem Vater: Was er so machte, wie er war, wie er wohnte. Über ein mögliches Treffen sprachen wir nie. Er fragte mich nicht danach und ich ihn nicht. Inzwischen weiss ich, dass mein Grossvater meinem Vater nach diesen gemeinsamen Essen jedes Mal von mir erzählte.

      Dann, als ich sechs Jahre alt war, fuhr meine Mama nach Los Angeles, zunächst für drei Monate. Als sie zurückkam, war sie voller Begeisterung, wollte dort leben, die Chancen ergreifen, die sich ihr dort in Fülle boten – aber mit einem kleinen Kind?

      Meine Pflegeeltern und meine Mama fanden, dass es das Beste für mich wäre, wenn ich bei Charlotte und Heinz bliebe. Es wäre nicht gut für mich, im amerikanischen Schulsystem gross zu werden, hier in der Schweiz hätte ich viel bessere Voraussetzungen. Und wie sollte meine Mutter sich um mich kümmern und sich gleichzeitig ein Leben aufbauen? «Du weisst, dass ich dich mehr lieb hab als alles andere auf der Welt», beteuerte meine Mama.

      Ich glaubte ihr und bin mir auch heute noch sicher, dass sie das wirklich so meinte, und ich wollte eine gute Tochter sein, also nickte ich und war tapfer.

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