Der Weg des Psychonauten – Band 2. Stanislav Grof
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Gottesanbeterin (Mantis religiosa), das Insekt in Joseph Campbells Synchronizitätsgeschichte.
Mitten in seiner Arbeit verspürte Joe plötzlich einen unwiderstehlichen und völlig irrationalen Impuls, aufzustehen und eines der Fenster zur Sixth Avenue (Fenster mit langweiliger Aussicht, die normalerweise die ganze Zeit geschlossen blieben) zu öffnen. Nachdem er es geöffnet hatte, schaute er sofort nach rechts, ohne zu verstehen, warum er das tat. Das Letzte, was man in Manhattan erwarten würde, ist eine Gottesanbeterin. Und doch war sie da, im 14. Stock eines Hochhauses in Lower Manhattan, ein großes Exemplar ihrer Art, das langsam nach oben kletterte. Laut Joe drehte sie ihren Kopf und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu.
Obwohl diese Begegnung nur wenige Sekunden dauerte, hatte sie etwas Unheimliches und hinterließ bei Joe einen starken Eindruck. Er sagte, er könne bestätigen, was er wenige Minuten zuvor in Laurens van der Posts Geschichte gelesen hatte: Das Gesicht der Gottesanbeterin hatte etwas eigenartig Menschliches an sich; ihr »herzförmig zugespitztes Kinn, die hohen Wangenknochen und die gelbe Haut ließen sie genau wie die eines San aussehen«. Das Erscheinen einer Gottesanbeterin mitten in Manhattan ist an und für sich schon ein sehr ungewöhnliches Ereignis, gelinde gesagt. Betrachtet man jedoch den Zeitpunkt ihres Erscheinens, der mit Joes intensiver Vertiefung in die Mythologie der San und seinem unerklärlichen irrationalen Drang, das Fenster zu öffnen, zusammenfiel, ist die statistische Unwahrscheinlichkeit dieses Ereignisses wirklich astronomisch. Und die Tatsache, dass die San die Mantis als kosmischen Trickster sehen, scheint für diese Situation sehr passend. Nur ein eingefleischter Materialist, der sich seiner Weltsicht mit quasi-religiöser Leidenschaft verschrieben hat, könnte glauben, dass so etwas rein zufällig geschieht.
Die in der folgenden Geschichte beschriebenen Vorfälle ereigneten sich während einem unserer einmonatigen Seminare in Esalen, zu einer Zeit, als Christina ihre spirituelle Krise durchlebte. Ihre spontanen Erfahrungen waren sehr intensiv und ergiebig und kombinierten Elemente aus verschiedenen Ebenen des persönlichen und kollektiven Unbewussten. Eines Tages hatte sie besonders intensive und bedeutsame Visionen mit einem weißen Schwan. Unser Gastdozent für den folgenden Tag war Michael Harner, ein bekannter Anthropologe und lieber Freund. Michael gehörte zu einer oft als »visionäre Anthropologen« bezeichneten Gruppe. Im Gegensatz zu den traditionellen Anthropologen nahmen sie aktiv an den Zeremonien der Kulturen teil, die sie untersuchten, unabhängig davon, ob es sich dabei um bewusstseinserweiternde Substanzen wie Peyote, Zauberpilze, Ayahuasca oder Stechapfel handelte oder um nächtelange Trance-Tänze und andere nicht-pharmakologische »Technologien des Heiligen«.
Michael Harner (1929–2018), berühmter amerikanischer Anthropologe und praktizierender Schamane.
Michaels Entdeckung der Arbeitsweise der Schamanen und ihrer unglaublichen inneren Welt begann 1960, als das American Museum of Natural History ihn einlud, eine ganzjährige Expedition in das peruanische Amazonasgebiet zu unternehmen, um die Kultur der Conibo im Gebiet des Ucayali-Flusses zu studieren. Seine Führer sagten ihm, wenn er wirklich lernen wolle, müsse er das heilige Getränk der Schamanen einnehmen. Ihrem Rat folgend, trank er Ayahuasca, ein Gebräu aus dem Sud der Dschungelliane Banisteriopsis caapi und der Cawa-Pflanze (Psychotria viridis), die die Indios »Seelenranke« oder »Kleiner Tod« nannten. Er unternahm eine erstaunliche visionäre Reise durch zumeist unsichtbare Dimensionen der Existenz, auf der er seinen eigenen Tod erlebte und außergewöhnliche Einsichten und Offenbarungen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit erhielt.
Als er später herausfand, dass ein Conibo-Ältester, ein Meisterschamane, mit allem, was er selbst gesehen hatte, ziemlich vertraut war und dass seine Ayahuasca-Erfahrungen bestimmten Passagen aus dem Buch der Offenbarung entsprachen, gewann Michael die Überzeugung, dass es tatsächlich eine verborgene Welt gab, die es zu erkunden galt. Er beschloss, alles über den Schamanismus zu lernen, was er konnte. Drei Jahre später kehrte Michael nach Südamerika zurück, um mit den Jívaro, einem ecuadorianischen Kopfjägerstamm, bei denen Michael 1956 und 1957 gelebt und studiert hatte, Feldforschung zu betreiben. Hier erlebte er eine weitere wichtige Initiationserfahrung, die ausschlaggebend für seine Entdeckung des Weges der Schamanen war. Akachu, ein berühmter Jívaro-Schamane, und dessen Schwiegersohn brachten ihn zu einem heiligen Wasserfall tief im Amazonasdschungel und gaben ihm Maikua zu trinken, den Saft einer Brugmansia-Sorte des Stechapfels (Brugmansia arborea), einer Pflanze mit starken psychoaktiven Eigenschaften.
Infolge dieser und anderer Erfahrungen wurde Michael – ein Anthropologe mit guten akademischen Qualifikationen – zu einem versierten Praktiker und Lehrer des Schamanismus. Er und seine Frau Sandra gründeten außerdem die Foundation for Shamanic Studies, eine Institution, die sich der Vermittlung schamanischer Methoden an interessierte Studenten und dem Angebot schamanischer Workshops für die Öffentlichkeit widmet. Michael hatte ein Buch mit dem Titel Der Weg des Schamanen geschrieben, in dem er verschiedene Methoden schamanischer Arbeit aus der ganzen Welt sammelte und sie für den Gebrauch in erfahrungsorientierten Workshops und in der schamanischen Ausbildung für Westler adaptierte (HARNER 1980).
Während unseres einmonatigen Workshops in Esalen führte uns Michael auf eine Heilreise mit der Methode des Geistkanus (Spirit Canoe), wie sie vom Stamm der Salish-Indianer im amerikanischen Nordwesten praktiziert wird. Er eröffnete die Sitzung, indem er auf seine Trommel schlug, und forderte die Teilnehmer auf, sich zu bewegen und zu tanzen, bis sie sich mit einem bestimmten Tier identifizierten. Es dauerte nicht lange, und schon bald kauerten die Menschen, krochen auf allen Vieren, sprangen herum und ahmten dabei zahlreiche Kletter-, Grab-, Greif-, Schwimm- und Flugbewegungen nach. Der Hauptraum im Großen Haus von Esalen war erfüllt von verschiedenen erkennbaren und nicht erkennbaren Tier- und Vogelstimmen.
Als alle die Verbindung zu einem bestimmten Tier hergestellt hatten, bat Michael die Gruppenmitglieder, sich in einer spindelförmigen Anordnung auf den Boden zu setzen, sodass ein imaginäres »Geistkanu« entstand. Dann fragte er, ob es eine Person gäbe, die Heilung benötige, und Christina meldete sich freiwillig. Michael stieg in das »Boot«, hielt seine Trommel, winkte Christina zu sich und wies sie an, sich hinzulegen. Als die Szenerie für die Heilreise bereit war, bat Michael uns, uns vorzustellen, wir seien eine Crew von Tieren, die mit einem Kanu in die Unterwelt fährt, um Christinas Krafttier zurückzuholen. Der spezifische Ort, den Michael für diese imaginäre Expedition wählte, war das System miteinander verbundener, mit heißem Wasser gefüllter unterirdischer Höhlen, das sich angeblich unter einem großen Teil Kaliforniens erstreckt. Der Eingang dazu war leicht zu finden, da dieses System die heißen Quellen von Esalen speist.
Als Kapitän dieses Geistkanus, erklärte Michael, würde er das Tempo des Paddelns durch den Schlag seiner Trommel vorgeben. Während der Fahrt würde er nach Krafttieren Ausschau halten. Wenn ein bestimmtes Krafttier dreimal auftauche, wäre dies das Zeichen dafür, dass er das gesuchte Tier gefunden hatte. An diesem Punkt würde er es packen und der Besatzung des Bootes durch das schnelle Schlagen der Trommel signalisieren, dass es Zeit für eine rasche Rückkehr war. Wir hatten das Salish-Geistkanu schon einige Male mit Michael gemacht. Beim ersten Mal gingen wir ohne große Erwartungen an die Sache heran. Das Ganze klang nach einem harmlosen Vergnügen – eine großartige Idee für ein Kinderspiel, aber eine eher alberne Aktivität für reife Erwachsene.
Doch schon das allererste Erlebnis mit dem Geistkanu brachte uns dazu, unsere Einstellung zu ändern. In der Gruppe befand sich eine junge Frau, die durch ihr Verhalten die gesamte Gruppe gegen sich aufgebracht hatte. Sie war darüber sehr unglücklich, denn das Gleiche war ihr schon früher in ihrem Leben in fast jeder Gruppe passiert, mit der sie zu tun hatte, und sie beschloss, sich freiwillig