Die Phantome des Hutmachers. Georges Simenon
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Die Rue du Minage war zu dieser Stunde fast immer menschenleer, zumal wenn es so in Strömen regnete. Ja sie war sogar noch leerer, seit es jede Menge Leute vermieden, nach Einbruch der Dunkelheit noch aus dem Haus zu gehen. Die Geschäftsleute, die als Erste unter der Panik zu leiden gehabt hatten, waren auch die Ersten gewesen, die Patrouillen organisierten. War es diesen jedoch gelungen, Madame Geoffroy-Lamberts Tod zu verhindern oder den von Madame Léonide Proux, der Hebamme aus Fétilly?
Der kleine Schneider hatte Angst, Monsieur Labbé aber bereitete es ein boshaftes Vergnügen, auf ihn zu warten, auch wenn nichts danach aussah – war das nicht ein teuflisches Vergnügen?
Er öffnete schließlich die Eingangstür und ließ dadurch deren Glöckchen ertönen. Er schlüpfte unter dem riesigen Zylinderhut aus rotem Blech hindurch, der ihm als Ladenschild diente, schlug den Mantelkragen hoch, versenkte die Hände in die Taschen. An Kachoudas’ Tür gab es ebenfalls eine Glocke, und schon nach wenigen Schritten auf dem Trottoir war sich Monsieur Labbé sicher, sie zu hören.
Es war eine Straße mit Arkadengängen, so wie die meisten alten Straßen von La Rochelle. Es regnete also nicht auf die Trottoirs. Sie waren wie kalte, feuchte Tunnel, wo es nur ab und an Licht gab, mit Toreinfahrten, die in die Dunkelheit führten.
Auf dem Weg zur Place d’Armes richtete Kachoudas sein Schritttempo nach dem des Hutmachers, hatte aber trotz allem eine solche Angst vor einem Hinterhalt, dass er lieber mitten auf der Straße und durch den Regen lief.
Bis zur Ecke begegneten sie niemandem. Dann kamen die Schaufenster der Parfümerie, der Apotheke, des Hemdengeschäfts und schließlich die breiten Glasfenster des Cafés. Jeantet, der junge Journalist, mit seinen langen Haaren, seinem hageren Gesicht, seinen glühenden Augen war auf seinem Posten, am ersten Tisch, dicht beim Fenster, gerade dabei, vor einer Tasse Kaffee seinen Artikel zu schreiben.
Monsieur Labbé lächelte nicht, schien ihn überhaupt nicht zu sehen. Er hörte die Schritte des kleinen Schneiders, wie sie näher kamen. Er drehte den Türknauf, betrat die wohlige Wärme, ging ohne Zögern hinüber zu den mittleren Tischen nah am Ofen zwischen den Säulen und blieb stehen hinter den Kartenspielern, während der Kellner, Gabriel, ihm den Mantel und den Hut abnahm.
»Wie geht es dir, Léon?«
»Nicht übel.«
Sie kannten einander schon zu lange – zumeist seit der Schule –, um noch Lust zu haben, miteinander zu reden. Diejenigen, die Karten in der Hand hielten, machten ein kleines Zeichen oder berührten mechanisch die Hand des Neuankömmlings. Gabriel fragte aus reiner Gewohnheit:
»Wie immer?«
Und mit einem behaglichen Seufzer nahm der Hutmacher hinter einem der Bridge-Spieler Platz, Doktor Chantreau, den er Paul nannte. Mit nur einem Blick hatte er gesehen, wie die Partie stand. Sie dauerte schon seit Jahren und Jahren, hätte man meinen können, weil sie jeden Tag zur gleichen Stunde am gleichen Tisch mit den gleichen Getränken vor den gleichen Spielern mit den gleichen Pfeifen und den gleichen Zigarren fortgesetzt wurde.
Die Zentralheizung war wohl nicht kräftig genug, da Oscar, der Wirt, den großen, schönen, leuchtend schwarzen Ofen behalten hatte, dem Monsieur Labbé die Beine entgegenstreckte, um seine Schuhe und Hosenumschläge zu trocknen. Der kleine Schneider war mittlerweile hereingekommen, war ebenso zu den mittleren Tischen gegangen, wenn auch nicht mit der gleichen Sicherheit, hatte respektvoll gegrüßt, ohne dass ihm jemand geantwortet hätte, und auf einem Stuhl Platz genommen.
Er gehörte nicht dazu. Weder war er auf denselben Schulen noch in denselben Kasernen gewesen. Zu der Zeit, als die Kartenspieler einander bereits geduzt hatten, lebte er noch Gott weiß wo im Nahen Osten, wo Leute von seiner Sorte wie Vieh umhertransportiert wurden, von Armenien nach Smyrna, von Smyrna nach Syrien, nach Griechenland oder sonstwo.
Vor ein paar Jahren hatte er anfangs noch ein Stück abseits Platz genommen, um seinen Weißwein zu trinken, und folgte dem Spiel, das ihm wahrscheinlich völlig fremd war, derart aufmerksam, dass seine Stirn sich in Falten legte. Unmerklich war er von da an näher gekommen, indem er zunächst den Stuhl heranschob, dann einfach den Sitzplatz und schließlich den Tisch wechselte, um sich direkt hinter den Spielern wiederzufinden.
Keiner redete von den alten Frauen, so wenig wie von dem Grauen, das in der Stadt herrschte. Man diskutierte womöglich an anderen Tischen darüber, nicht aber an diesem. Laude, der Senator, nahm die Pfeife vom Mund, um zu fragen, indem er sich kaum merklich zu dem Hutmacher wandte:
»Deine Frau?«
»Immer dasselbe.«
Eine Angewohnheit, die die Leute schon seit fünfzehn Jahren hatten. Gabriel hatte ihm seinen Grenadine-Picon gebracht, dunkel mahagonibraun war er, und er trank einen Schluck davon, langsam, während er einen Blick auf den jungen Jeantet warf, der dabei war, seinen Artikel für den Echo des Charentes zusammenzuschmieren. Eine Pendeluhr mit in Kupfer eingefasstem Zifferblatt hing zwischen dem eigentlichen Café und dem hinteren Teil, in dem in einer Reihe die Billardtische standen. Sie zeigte Viertel nach fünf, als Julien Lambert, ein Versicherungsmensch, der wie üblich verlor, den Hutmacher fragte:
»Machst du für mich weiter?«
»Heut Abend nicht.«
Was nichts Außergewöhnliches war. Sie waren sechs oder sieben, die mal die Karten in der Hand hielten, mal hinter den Spielern saßen. Einzig Kachoudas wurde nie gefragt, ob er mitspielen wolle, und wahrscheinlich war er auch gar nicht erpicht darauf.
Er war klein, schwächlich. Er roch schlecht, und er wusste das – er wusste es so gut, dass er es vermied, den anderen zu nahe zu kommen. Es war ein Geruch, der bloß ihm anhaftete und seinen Angehörigen und den man den Kachoudasgeruch hätte nennen können, eine Mischung aus dem Knoblauch in ihrer Küche und dem Wollfett der Stoffe. Hier sagte man nichts, höflich tat man, als bemerke man es nicht, in der Schule aber protestierten die nicht so diskreten Mädchen, wenn sie neben die Kachoudaskinder gesetzt wurden.
»Du stinkst! Deine Schwester stinkt! Ihr stinkt alle!«
Er rauchte eine der wenigen Zigaretten des Tages, denn während der Arbeit konnte er nicht rauchen, ohne Gefahr zu laufen, dabei Kleidung von Kunden zu versengen. Er drehte sich seine Zigaretten selbst, und immer war da ein Ende ganz dunkel von Spucke.
Es war der 3. Dezember. Es war Viertel nach fünf. Es regnete. Die Straßen waren schwarz. Es war warm im Café, und Monsieur Labbé, der Hutmacher aus der Rue du Minage, verfolgte, wie der Doktor spielte, der eben fünf Treff angesagt hatte, was der Versicherungsfritze unklugerweise gerade kontrierte.
Morgen früh würde man aus der Zeitung erfahren, was Jeantet soeben über die ermordeten alten Frauen schrieb, denn mit vollem Einsatz führte der eine Untersuchung und hatte sogar eine Art Kampfansage an die Polizei losgelassen. Sein Chef, Jérôme Caillé, der Druckereibesitzer, der bei dem Blatt das Sagen hatte, spielte seelenruhig Bridge, ohne sich um den jungen Hitzkopf zu kümmern, dessen Artikel er überfliegen würde, sobald er nach Haus kam.
Chantreau war dabei, die Trümpfe zu ziehen, und riskierte den entscheidenden Impass, als Monsieur Labbé sich nicht mal umzudrehen brauchte, um zu sehen, wie Kachoudas halb aufstand, ohne dabei völlig den Kontakt zu seinem Stuhl zu verlieren, sich ihm entgegenbückte und den Arm ausstreckte, wie um etwas aufzuheben, das in den Sägespänen auf dem Fußboden lag.
Aber es war die Hose des Hutmachers, auf die er es abgesehen hatte. Sein Schneiderauge hatte am Aufschlag