Glauben ohne Dogma. Dieter Rammler

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Glauben ohne Dogma - Dieter Rammler

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wird immer wieder gefragt, worin der christliche Glaube bestehe, wenn man Jesus so entschieden in die Kontinuität der Hoffnungen Israels stellt. Die Gegenfrage lautet: Geht es um das Christentum, oder nicht doch eher darum, mit dem Judentum und dem Juden Jesus an Gott zu glauben? Es wird auch gefragt, ob das Christentum nicht mehr sei als Humanismus. Die Gegenfrage: Was wäre falsch daran, wenn ein Mensch durch seinen Glauben zu einem humanen Leben fände? Schließlich wird moniert, dass man dafür kein Christ zu sein bräuchte. Dem ist nichts entgegenzusetzen. Jesus Christus war auch kein Christ, sondern ein gläubiger Mensch, dem es mit allen Fasern seines Lebens darum ging, Gott als liebendem Grund zu vertrauen und seinem Nächsten beizustehen. Das kann man als Jude, Muslim, Buddhist, Humanist oder Christ. Wer sich in der Weltgeschichte umsieht, entdeckt, dass es leuchtende Vorbilder des Glaubens überall auf der Welt und auch in anderen Religionen gab und gibt. Gott sei Dank auch im Christentum. Als Christen glauben wir in der Erinnerung und Nachfolge Jesu an Gott als den Daseinsgrund der Liebe und an seine Barmherzigkeit. Die Trennlinie verläuft also nicht zwischen Christentum und anderen Religionen, sondern quer durch alle Religionen und Kulturen hindurch. Wo Macht und Geld vergöttert werden und Menschen sich über andere erheben einerseits, und wo sie ihrer Bestimmung folgen, in Ehrfurcht vor dem Leben, das Gott geschaffen hat, andererseits.

       Seht den Menschen!

      Zu den frühesten Erinnerungen an Jesus von Nazareth gehören die Ereignisse in Jerusalem und ihre Deutung. Seine Verurteilung, sein Martyrium und Tod am Kreuz, sein Begräbnis, der Besuch der Frauen an seinem Grab und wie ihn die Menschen, die ihm gefolgt waren, unter sich als lebendig erlebten. In ihrer Erinnerung formt sich das Bekenntnis zu Jesus Christus: Jesus aus Nazareth ist der Messias, den Gott von den Toten auferweckt hat. Für diese kleine Gruppe von Gläubigen bewahrheitet sich auf Golgatha ihr jüdischer Glaube und ihre Hoffnung auf den Gott der Barmherzigkeit und des Lebens. Es wird kein neuer Glauben geboren oder gestiftet, keine neue Religion in die Welt gesetzt. Sondern der Gott der Väter, der Gott Mose und der Propheten handelt an Jesus Christus so, als würde er selbst das Kreuz erleiden.

      Gott am Kreuz – eine unmögliche Vorstellung, den Griechen eine Torheit, den Juden ein Ärgernis, wie es beim Apostel Paulus heißt. Für die einen war es Blasphemie, Gott mit der Hinrichtung eines Verurteilten in Verbindung zu bringen, für die anderen Anlass zum Spott, weil in der Höhenluft des Olymps kein Raum war für Blut, Schmerz und Verzweiflung. Zwischen diesen beiden Polen entsteht also die Graswurzelbewegung derer, die sich später Christen nennen – für die meisten Zeitgenossen nicht mehr als ein Haufen Verrückter.

      Woran liegt es, dass diese Erinnerungen bei so starker Ablehnung nicht untergingen, sondern bewahrt und weiter ausgedeutet wurden? Und warum ist ausgerechnet das Kreuz als Inbegriff von Ärgernis und Torheit das Zentralsymbol und Herzstück des christlichen Glaubens geworden? Eine Antwort darauf fand ich während einer medizinethischen Veranstaltung zum Thema Schmerz. Mediziner, Psychologen und Seelsorger waren zu Worte gekommen. In der anschließenden Diskussion erhob sich ein Teilnehmer, der sich als ein in der Schmerztherapie tätiger Arzt und selbst langjähriger Schmerzpatient vorstellte. Er deutete auf das im Konferenzraum hängende Kreuz und sagte sinngemäß: Ich bin nicht besonders gläubig, aber irgendwann habe ich angefangen, in diesem Kreuz all die Menschen zu sehen, die zu mir kommen und auch mich selbst. Seitdem gehe ich hin und wieder in eine Kirche, nur um mich in diesen Anblick zu vertiefen.

      Ich glaube, dass diese Szene den eigentlichen Grund berührt, warum das Kreuz sich als Zentralsymbol des Christentums durchgesetzt und bis heute große Bedeutung hat. Vielleicht ist darauf sogar zurückzuführen, dass der christliche Glaube noch heute besonders in den Weltregionen Zulauf findet, in denen das Leid überdurchschnittlich stark das Leben der Menschen bedrückt. Sie blicken auf zum Mann am Kreuz und fühlen, dass dort etwas geschah, was auch ihnen geschieht und ihnen gilt: Fürwahr, er trug unsere Schmerzen!

      Wir vergessen nicht, dass im Zeichen des Kreuzes ganz andere, furchtbare Dinge geschahen. Das Christentum hat sich in einer langen Transformation zu einer Religion der Macht weit von seinen Ursprüngen entfernt. Auch wenn es in seiner Geschichte immer wieder zu Gegenbewegungen kam und Versuche gab, zu seinen Wurzeln zurückzufinden, das Kreuz löst nicht von ungefähr ambivalente Empfindungen aus. Wo das Kreuz Hoheitszeichen oder Amtsprivileg ist, hat es seine Bedeutung verloren. Das verträgt sich nicht mit einem Menschen, der der Überlieferung nach mit letzter Kraft hinausschreit: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Wo aber Menschen zum Kreuz pilgern, die eine schwere Lebenslast mit sich tragen, kann und wird es seine ursprüngliche Kraft als Symbol der Hoffnung finden. Wo genau Golgatha heute liegt, darüber mögen sich die Touristenführer in Jerusalem streiten – Golgathas gibt es auf der ganzen Welt. Aber eines ist seit jenem Tag anders, an dem, wie es das Johannesevangelium überliefert, der römische Statthalter vor der Kreuzigung Jesu ausspricht: Ecce homo! Seht den Menschen! Der Mensch im Schmerz, auf der Grenze zwischen tiefstem Zweifel und letzter Hoffnung, ist selbst zum Hoffnungssymbol geworden.

      Die Schriften Israels sind voller Spuren davon, dass Menschen im Schmerz an ihrer Hoffnung auf Gott festhalten. Der Prophet Jeremia glaubte an Gott im Schmerz, ja mehr noch: an den Schmerz Gottes. „So spricht der Herr: Man hört Klagegeschrei und bitteres Weinen in Rama. Rahel weint über ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder, denn es ist aus mit ihnen. Aber so spricht der Herr: Lass dein Schreien und Weinen und die Tränen deiner Augen; denn deine Mühe wird belohnt werden. Sie sollen wiederkommen aus dem Land des Feindes, und es gibt eine Hoffnung für deine Zukunft. Deine Kinder sollen wieder in ihre Heimat kommen … Mir bricht mein Herz, dass ich mich seiner erbarmen muss“ (Jeremia 31). Was für eine Vorstellung: der in Liebe und Mitleid gegründete Schmerz Gottes (Kazoh Kitamori).

      Es war im April 1998 in Buenos Aires. Anlässlich des Besuchs des Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, Landesbischof Christian Krause, hatten wir im Beisein von Vertretern der Ortskirchen an einer Audienz beim argentinischen Staatspräsidenten Carlos Menem teilgenommen. Angesprochen auf das noch immer ungeklärte Schicksal der Opfer der Militärdiktatur von 1976-1983, verbat er sich mit kalter Miene jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes. Außerdem habe ein Deutscher wohl Grund genug, sich bei diesem Thema an die eigene Geschichte zu erinnern. So also ist das, wenn du vor den Mächtigen stehst, dachte ich. Dabei würden wir bald wieder im Flieger sitzen. Ganz anders als die Menschenrechtsaktivisten, die wir anschließend in der evangelischen Gemeinde trafen. Unter ihnen waren auch Frauen von der Plaza de Mayo im Herzen Buenos Aires, die seit 1977 jeden Donnerstag an die Opfer der Junta erinnern. Mir ist diese Begegnung unter die Haut gegangen. Gott sei Dank gibt es Menschen, die den Blick von unten wagen und der Kälte der Macht ihren Glauben an Gerechtigkeit entgegensetzen. „Wir suchen unsere verschwundenen Kinder, aber auch die Kinder unserer Kinder“, berichtete eine der Frauen. „Das ist jetzt 20 Jahre her. Die Suche war am Anfang schrecklich und einsam. Jede und jeder hat es zunächst allein versucht, bis wir uns im Oktober 1977 mit zwölf Frauen zusammengetan haben.“ Die Frauen von der Plaza de Mayo sind inzwischen eine international bekannte Bewegung geworden. Sie tragen ein weißes Kopftuch. Es ist ihr Erkennungszeichen. Sie kämpfen für vollständige Aufklärung und Strafverfolgung und halten die Erinnerung wach an die 30.000 Opfer der argentinischen Militärdiktatur. Jeden Donnerstag treffen sie sich in Sichtweite des Präsidentenpalastes – bis heute. Menschen wie ihnen ist es zu verdanken, dass es einen internationalen Strafgerichtshof gibt. Damit die Menschen am Kreuz gesehen werden. Ecce homo!

      „Der Gedanke, dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not, dass die Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen, dass die letzten Hoffnungen auf eine übermenschliche Instanz kein Ziel erreichen und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich“, schrieb der jüdische Sozialphilosoph und Begründer der Frankfurter Schule Max Horkheimer zwei Jahre vor seinem Tod (1970).1 Jesus aus Nazareth hat eine Gegenspur gelegt, bis ans Kreuz: Seht den Menschen! Lesen wir die biblischen Zeugnisse einmal aus dieser Perspektive. Allenthalben werden wir ihn dabei antreffen, wie er sich den Kranken, den Armen, den Ausgeschlossenen zuwendet. Wie er alles darauf setzt,

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