Da ist mehr, noch so viel mehr .... Andrea Volkelt

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Da ist mehr, noch so viel mehr ... - Andrea Volkelt

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vor sich ging: Rhythmisch prasselte ein Platzregen auf die Zeltsegel, als spiele jemand mit einem Schlaginstrument. Zum Glück war unser Zelt dicht und hielt dem heftigen Sturm stand. An Schlaf war trotzdem nicht mehr zu denken. Wir lagen nebeneinander und ließen diese besondere Stimmung auf uns wirken. Mit der Zeit wurde die Musik leiser und der Regen ließ nach.

      Evi krabbelte zum Zelteingang und öffnete den Reißverschluss. Sie lugte hinaus und sagte: »Alles in Ordnung bei uns, aber bei den Nachbarn …«

      Schnell befreite ich mich aus dem Schlafsack und spähte ebenfalls hinaus. Tatsächlich lagen einige Zelte zusammengesunken am Boden, Stangen von Vorzelten waren umgefallen und Planen davongeweht. Langsam krochen die umliegenden Leute aus ihren Quartieren und begutachteten die Schäden.

      Wir saßen schon beim Frühstück, als uns einer der Nachbarn ansprach, ob wir ihm nicht den Gummihammer für die Heringe leihen könnten.

      »Selbstverständlich«, sagte ich, sprang von meinem Stuhl auf und ging zum Auto.

      »Habt ihr vielleicht auch noch ein paar Erdnägel, die ihr uns borgen könnt?«, rief er mir hinterher.

      Ich kramte eine kleine Sammlung aus meinem Kofferraum und überließ ihm das Werkzeug. Man soll doch niemanden unterschätzen, nur weil man jung, blond und ein Mädchen ist, dachte ich und fühlte mich großartig. Mein Vater hatte immer gesagt: »Es kommt nicht immer auf das WAS, sondern auf das WIE an.«

      Am Vormittag spazierten wir bepackt mit Badesachen und Büchern zum Strand. Zwischen dem Schwimmen, Sonnenbaden und Quatschen fanden wir endlich Zeit zum Lesen. Sofort vertiefte ich mich in eine Autobiografie. Sie spielte sich in Indien ab und handelte von der Entwicklung eines kleinen Jungen zum erwachsenen Yogi. Die Ausbildung war streng. Er hatte einen interessanten Lebensweg und schwierige Aufgaben zu bewältigen. In meinem Kopf entstanden bunte Bilder, wie ein Film. In dem Kapitel, das ich gerade las, sammelten sich viele Menschen am Meer. Bewegend wurde beschrieben, wie aus dem Nichts eine riesige Welle aus dem Indischen Ozean rollte und dort den gesamten Strandabschnitt überschwemmte. Die Vorstellung dieses Erlebnisses wühlte mich auf. Und im selben Moment bäumte sich vor uns das Meer auf und eine Welle platschte über mich. Instinktiv riss ich beide Arme hoch und rettete so mein Buch. Tropfnass sprang ich auf. Um uns herum das Geschrei der Menschen, das bei den meisten unmittelbar in Gelächter überging. Niemand hatte mit diesem wilden Gruß des Meeres gerechnet. Evi robbte ihrem Buch hinterher. Die Welle trug es von ihr fort. Endlich fasste sie es. Ein Bild für die Götter, dachte ich und lachte laut. Den Menschen um uns herum ging es ähnlich. Viele sammelten irgendwelche Gegenstände, Bücher, Hefte oder Sonnencremetuben ein.

      Langsam beruhigte sich das Ganze. Evi und ich wrangen unsere Badetücher aus und setzten uns in den Sand. Ich wollte unbedingt weiterlesen und fand auch schnell wieder in die Geschichte. Ein paar Kapitel später las ich von Menschen, die Drachen mit vielen bunten Flatterbändern in den Himmel schickten. Sie hielten sie an Schnüren fest und ließen sie vom Wind tragen. Frische, grelle Farben schmückten den Horizont. Überwältigt von den Bildern in meiner Vorstellung, nahm ich kurz Abstand von dem Text und schaute in den Himmel. Hätte ich nicht schon auf dem Boden gesessen, wäre ich aus allen Wolken gefallen. Hier im seichten Wasser an unserem Strand standen junge Leute und Kinder und ließen Drachen steigen. An keinem der Tage zuvor hatte hier jemand derartiges aufgezogen. Für heute ist Schluss mit Lesen, dachte ich. Diese Parallelen sind mir nicht mehr geheuer.

      »Evi, schau mal da drüben!« Ich deutete zu den jungen Leuten. Eine Weile betrachteten wir das Schauspiel und ich fragte sie, was sie davon hielt, dass Handlungen, die ich eben gelesen hatte, hier in der realen Welt zeitgleich passierten. »Du kannst mir doch bestätigen, dass vorher weder eine Welle so weit herausgetreten ist, noch dass wir jemals vorher an diesem Strand Menschen mit Drachen gesehen haben, oder?«

      Evi schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir auch nicht erklären.«

      Zurück aus dem Urlaub, überfielen mich meine Kolleginnen mit einer interessanten Neuigkeit: Ein junger Mann war zwischenzeitlich eingestellt worden. Er gehörte zu einer anderen Abteilung, aber er musste schon einen gewissen Eindruck hinterlassen haben, wenn die Damen aus dem Team eine so große Sache daraus machten.

      Ich dachte nur: Meine Güte, was die Mädels schon wieder haben …

      Wenige Tage später kam besagter Mann in unsere Abteilung und traf auf mich. Oder ich auf ihn. Auf jeden Fall traf es mich wie ein Blitz und zauberte mir schlagartig eine ganze Schmetterlingsmannschaft in den Bauch. Auweia, was war das denn?

      Er fragte nach einem Auftrag.

      Ich nickte. »Ja, ähm, klar. Moment bitte.« Meine Wangen wurden heiß und ich konnte regelrecht spüren, wie rot sie sein mussten. Das war mir so peinlich. Als ich ihm den gewünschten Auftrag an den Counter brachte, konnte ich ihm kaum in die Augen sehen. Er war mehr als einen Kopf größer als ich. Unsicher linste ich nach oben und blickte in ein schmunzelndes Gesicht. Breit grinsend lächelte ich zurück. Er nahm mir wortlos die Belege aus den Händen, drehte sich um und verließ unser Büro.

      Halleluja, ich bin doch kein Teenager mehr, der sich wegen so eines Lächelns so ungeschickt benimmt. Wie kindisch, dachte ich und ging wieder zum Schreibtisch.

      Meine beiden Kolleginnen schauten mich bedeutungsvoll an.

      »Was?«, fragte ich vermutlich etwas zu laut.

      Sie feixten und antworteten fast aus einem Mund: »Nichts. Alles in Ordnung.«

      Nun war es etwas schwierig, meine Konzentration wieder auf meine nächsten Aufgaben zu richten. Also ging ich kurz entschlossen für kleine Mädchen. Irgendwie musste ich mich beruhigen. Wie soll denn das bei einem nächsten Zusammentreffen werden?, ging es mir durch den Kopf. Da sollte ich dann doch etwas normaler wirken. Aber was bitteschön ist schon normal, wenn so ein fescher Mann vor mir steht und mein Herz sich fast überschlägt?

      Die nächsten Tage wartete ich ständig darauf, dass der neue Kollege wieder unser Büro betrat. Der Tag kam – und er direkt auf mich zu.

      »Übrigens, ich bin Sigi, da haben wir es das letzte Mal tatsächlich versäumt, uns vorzustellen.« Er streckte mir die Hand entgegen und sah mich erwartungsvoll an.

      »Ähm, ja, das stimmt, ich bin Andrea, freut mich sehr«, antwortete ich und fasste seine Hand. Und in dem Moment, in dem meine kleine Hand mit seiner regelrecht verschmolz, durchflutete mich eine Wärme. Sie breitete sich in meinem ganzen Körper aus und erfüllte mein Herz. Eine wunderbare Geborgenheit durchströmte mich. Für ein paar Sekunden dachte ich, würde die Zeit anhalten. Nichts um mich herum nahm ich wahr, nur das laute Pochen meines Herzens klopfte bis in beide Ohren und ein wildes Flattern machte sich breit in meinem Bauch. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten wir unsere Berührung und schüchtern ließ ich mich auf den Bürostuhl nieder.

      Ein paar Tage später und einige kurze Begegnungen mehr trafen wir uns zufällig nach Feierabend auf dem Parkplatz. Aufgeregt und unsicher, wie ich mich verhalten sollte, wollte ich in mein Auto steigen. Ich war nicht mutig genug, ihn anzusprechen. Sigi sah mich, lächelte und sprach mich an. Ich merkte wohl, dass es auch für ihn eine Freude war, mir unentdeckt von weiteren Kollegen zu begegnen. Zuerst plauderten wir noch über Belanglosigkeiten, bis er mich endlich fragte, ob wir uns nicht auf einen Kaffee treffen wollen.

      So verabredeten wir uns für das Wochenende.

      Voller Aufregung und überpünktlich erschien ich am vereinbarten Treffpunkt. Als Sigi endlich vor mir stand, sahen wir uns lange in die Augen. Da war so ein anziehendes Strahlen in seinem Blick, warm und schützend. Schelmisch und klug und mit einer Tiefe, wie ich sie noch in keinen

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