Da ist mehr, noch so viel mehr .... Andrea Volkelt
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Eines Abends rief mein Onkel an. Er berichtete von einer Mieterin, die ausziehe, und fragte, ob ich nicht jemanden wüsste, der bei ihm einziehen möchte. Und ob ich jemanden wusste! Am besten sofort!
Voller Aufregung fuhr ich zu Sigi. »Wir haben eine Wohnung, wenn wir sie wollen!«, rief ich ihm entgegen. »In Aschau bei meiner Tante und meinem Onkel. Am Wochenende ist Besichtigung.«
Sigi sah mich verdutzt an. Dann fing er an zu lachen. »Gerade habe ich darüber nachgedacht, wie schrecklich eine Wohnungssuche sein kann. Und jetzt kommst du.«
So schnell kann es sich ändern. Na ja, ganz so schnell, wie ich hoffte, ging es nicht. Es waren noch ein paar Renovierungsarbeiten zu erledigen, die mein Onkel in Auftrag gab. Die Wände pinselten wir selber an und im Oktober 1989 wurde Aschau im Chiemgau unsere gemeinsame Heimat.
Unser Leben war sehr abwechslungsreich. Wir waren jung, hatten eine lustige Clique und unseren Spaß. So unbedarft und guter Laune, rundherum sorglos und ständig auf Achse. Doch bald wurde mir die Entfernung zur Arbeit von Aschau aus zu weit. Mit Sigi zusammen zu fahren passte zeitlich nicht. Er startete morgens noch früher als ich und konnte seinen Arbeitsplatz oft erst nach mir verlassen. Ich spürte, so war es nicht gut, und traf schweren Herzens die Entscheidung, mich um eine Arbeitsstelle in der näheren Umgebung zu kümmern. Ich bewarb mich im Nachbarort bei einem Spielwaren- und Kartenfabrikanten. Prompt wurde ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen.
Mit feuchten Händen saß ich dem Abteilungsleiter gegenüber. Das Gespräch verlief locker und meine Aufregung war schnell wie weggeblasen. Beim Verlassen der Firma hatte ich ein gutes Gefühl. Von meiner Seite her stand dem Arbeitsplatzwechsel nichts im Weg. Zu Hause erzählte ich Sigi voller Begeisterung von dem angenehmen Gespräch und dem sympathischen Vorgesetzten. »Ich hoffe sehr, sie nehmen mich, dann wird es leichter werden. Was meinst du?«
Sigi streichelte sanft über meinen Kopf. »Mach dir keine Gedanken, es kommt schon so, wie es sein soll.«
Ein paar Tage später meldete sich die Firma und sagte mir die Stelle zu. Also fuhr ich hin – zur Vertragsunterzeichnung.
Jetzt war es an der Zeit, bei meinem bisherigen Arbeitgeber zu kündigen. Und das stellte sich als gar keine leichte Aufgabe heraus, als ich merkte, wie ungern mich mein Chef gehen lassen wollte.
Neuer Arbeitsplatz
Das neue Team machte mir den Start leicht. Renate teilte sich mit mir ein Büro. Wir verstanden uns von der ersten Sekunde an. Schnell war ich eingearbeitet und bald schon gehörte ich zu den Spieletestern. Wir probierten mit den Entwicklern neue Ideen der Spieleautoren aus.
Besonders spannend fand ich die Wahrsage- und Tarot-Karten in unserem Sortiment. Sie erinnerten mich an einen Urlaub mit meinen Eltern in Kroatien. Damals war ich dreizehn gewesen und eine alte Frau hatte mir das Kartenlegen anhand von Rommeekarten erklärt. Ich war Feuer und Flamme. Damals. Wir übten und übten. Außerdem brachte sie mich dazu, sämtlichen Erwachsenen die Karten zu deuten. »Es geht um das Gefühl, das du bekommst und anschließend um die Umschreibung, also die richtigen Worte zu finden.« Bei unserer Abreise hatte mir die alte Dame wissend zugenickt, erinnerte ich mich wieder. Meine Neugierde war geweckt und ich erzählte Renate von meinem Interesse an diesen Karten.
»Lass dir ein Set kommen. Da ist doch nichts verloren. Du kannst es zur Auswahl bestellen und falls es dir nicht gefällt, gibst du es wieder zurück.«
Am nächsten Tag lag meine Lieferung im Büro. Es waren sechsunddreißig Karten mit verschiedenen Symbolen. Ein Anleitungsbuch lag bei, das die Zeichen erklärte und einige Legearten beschrieb. Das war ganz anders als damals mit den Rommeekarten. Ich klappte das Buch zu und sagte: »Na gut, da reicht die Mittagspause nicht, das alles zu begreifen. Ich nehme es mit nach Hause.«
»Jep!« Renate hielt den Daumen hoch. Ein paar Tage später fragte sie nach, wie weit ich mit den Karten sei.
»Ich übe schon an fiktiven Personen, die von mir Antworten erwarten«, erklärte ich kichernd.
»Dann bring die Karten doch mal mit und ich stelle mich als Testperson zur Verfügung. Das macht doch nur Sinn, wenn du Rückmeldungen bekommst«, sagte sie. Damit war unsere Beschäftigung während der Mittagspause am nächsten Tag schon gesichert.
»Zuerst mischst du die Karten und denkst entweder an dich und die Frage, die du gerne beantwortet haben möchtest, oder du versuchst an nichts zu denken, dann kommen Antworten auf ganz allgemeine Themen«, erklärte ich Renate.
Ich gab ihr die Karten und sie mischte mit ernster Miene.
»Wenn du soweit bist, legst du sie auf den Tisch und hebst den Stapel einmal ab. Anschließend übernehme ich.«
Sie folgte meinen Vorgaben. Es sah aus, als zitterten ihre Hände beim Mischen. Aber ich war selbst aufgeregt.
Endlich war sie soweit. Sie hob einen Stapel ab. Ich nahm die Karten auf und legte nach einer von mir ausgewählten Legetechnik alle aus. In vier Reihen war das Deck dann vor uns ausgebreitet. Ich suchte die Personenkarte. Für eine Frau ist es die Pik-Dame. Von ihr wird gedanklich ein Kreuz gezogen. Die Karten links, über, unter und rechts davon beschreiben die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Ein paar Minuten brauchte ich zur Orientierung. Wichtig ist, eigene Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, sagte ich mir innerlich vor, damit die »Sprache der Karten« durchkommt. Alle Symbole und ihre Bedeutung hatte ich im Grunde zu Hause auswendig gelernt. Das fiel mir überhaupt nicht schwer. Schließlich denke ich oft in Bildern und diese Symbole bestanden ja im Wesentlichen aus Zeichnungen. Die aneinander gereihten Abbildungen erzeugten nun eine Kette von Erläuterungen, die ich mir augenblicklich in meinem Geist aufsagte. Einzelne Wörter ergaben keinen Sinn für die Situation, in der sich mein Gegenüber offenbar befand und was aus den Karten zu deuten war. Deshalb stellte ich mir Fragen, angefangen mit: Was soll das Haus für meine Fragestellerin bedeuten? Geht es um ihr privates Umfeld oder um das Gebäude selber? Dabei sah ich mir die umliegenden Karten genauer an. Und plötzlich begann mein Kopfkino. Wie ein kleiner Film, den ich vor meinem inneren Auge ablaufen sah. Die Story wurde sehr lebendig. Ich konnte meine Aufregung nicht mehr verbergen. Die Hitze stieg mir in den Kopf und ich spürte eine innere Euphorie. Dann legte ich los. Schließlich bestand die Herausforderung nun darin, die richtigen Worte für die Bilder und Gefühle zu finden. Alles zu beschreiben, damit Renate etwas damit anfangen konnte. Erst sprudelte es aus mir heraus. Dann bremste ich mich wieder und hielt mich an, sensibel die richtigen Worte zu finden, Hinweise zu geben, mit denen sie etwas anfangen konnte. Immer wieder hörte ich in mich hinein und fragte, in welcher Lebensphase diese Frau steckte. Ich fokussierte mich auf die Frage: Was ist wichtig für den momentanen Lebensweg? Was soll sie wissen? Unmittelbar folgten weitere Geistesblitze, die aus mir herausschossen und nachvollziehbare Zusammenhänge ergaben. Ich zügelte jedoch meinen Redefluss und beschrieb die weitere Deutung ruhiger.
Ich sprach gerade über das Leben eines Menschen und plötzlich schaltete sich mein Verstand ein und tadelte mich. Das ist doch nicht Renate, von der du sprichst. Stimmt, so kannte ich meine Kollegin nicht. Mein Eindruck war jetzt, die Karten sprächen von einer mir völlig fremden Person. Ich sah von dem Kartendeck auf, schaute ihr in die Augen: »Keine Ahnung was das zu bedeuten hat, aber das bist ganz eindeutig nicht du.«
Das funktioniert so nicht, grübelte ich und fuhr fort: »Soll ich weitermachen? Es ist, weil es so aus mir heraussprudelt und ich noch so viel dazu zu sagen hätte. Vielleicht tun wir einfach so, als wärst du eine fremde Frau, deren Situation ich gerade vor mir habe. Bist du damit