Gornerschlucht. Urs W. Käser
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»Lieber nicht«, tönte es vom Bad her, »ich bin schon am Zähneputzen und möchte im Bett noch ein Kapitel in meinem historischen Roman lesen.«
»Gut, dann bis nachher!« Bruno schnürte seine Turnschuhe, zog die leichte Windjacke über und verliess mit Blacky das Hotel.
Ein wunderschöner Abendhimmel wölbte sich über Zermatt, die ersten Sterne waren gerade knapp zu sehen, und messerscharf zeichnete sich die dunkle Silhouette des Matterhorns am Firmament ab. In flottem Marschtempo gingen Bruno und Blacky den gewundenen Fussweg zum Fluss hinunter, liefen dann ein Stück dem Fluss entlang, bogen schliesslich nach links ab und erreichten den Bahnhof, wo Bruno im kleinen Verkaufsladen eine Schachtel Lutschtabletten kaufte. Es war viertel nach neun, und soeben fuhr ein Zug aus dem Unterland ein. Nur etwa zwanzig Personen kamen vom Bahnsteig her ins Freie. Zuhinterst erschien ein einzelner Mann mit einem Rucksack. Bruno Fuchs stutzte. Den Mann kenne ich doch! Aber wie heisst er nur? Ach, mein Gedächtnis! Jedenfalls war er ein langjähriger Patient in meiner Praxis, da bin ich sicher… Während Bruno noch überlegte, war der Mann hinter der nächsten Hausecke verschwunden. Bruno setzte die Runde mit Blacky fort, und als er wieder im Hotel war, dachte er nicht mehr daran, dass er Barbara von der Begegnung am Bahnhof hatte erzählen wollen.
Dienstag, 14. Juli 2015
»Patrick, wach auf! Bestes Heuschrecken-Wetter!« Lea trommelte ein zweites Mal an die Schlafzimmertür ihres Kollegen.
Endlich war von drinnen ein Murmeln zu vernehmen. »Ja, ja, komme schon…«
Lea ging zurück in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine an und deckte den Frühstückstisch. Als ihr Blick zum Fenster hinausging, umspielte ein feines Lächeln ihre Lippen. Ach, ist das herrlich, einen ganzen Sommer in Zermatt zu verbringen! Die einzigartige Pyramide des Matterhorns leuchtete bereits hell in der Morgensonne, die Eisfelder am Fusse der Nordwand glitzerten, und auch die Bäume an der Waldgrenze erstrahlten schon in sattem Grün. Fasziniert schaute Lea zu, wie sich das Sonnenlicht von Minute zu Minute weiter ins Tal hinunter schob. Als es die obersten Häuser von Zermatt erreichte, schlug die Küchenuhr gerade sieben. Ob wohl Patrick endlich aufgestanden ist? Lea sah ihren grossgewachsenen, blonden Studienkollegen vor sich, und ein warmes Gefühl durchströmte sie. Was für ein lieber Kerl! Wenn nur Maja nicht… Ach, dummes Zeug! Lea riss sich aus ihren Gedanken los, goss den fertig gebrühten Filterkaffee in den Thermoskrug und nahm Butter, Käse und Marmelade aus dem Kühlschrank.
Vom Flur her ertönte jetzt die fröhliche Stimme von Maja: »Morgen Patrick! Gut geschlafen?«
Leas Magen krampfte sich für einen Moment zusammen. Warum muss dieses Stück auch immer so gut gelaunt sein am frühen Morgen? Lea ballte die Faust und murmelte in sich hinein: Nein, liebe Lea, so geht das nicht! Mit Eifersucht kommst du nicht weiter und verdirbst zum Vornherein alles. Also bleib ruhig und lass dir nichts anmerken!
»Hey, ist das ein Prachtstag!« Patrick stand im Türrahmen und lächelte Lea aus seinen blauen Augen an. »Den müssen wir voll ausnützen, um mit unserer Kartierung ein gutes Stück voranzukommen.«
»Ja, vor allem du mit deinen sonnenhungrigen Heuschrecken!«, erwiderte Lea, jetzt wieder etwas entspannter. »Maja und ich können ja unsere Pflänzchen noch bei jedem Wetter sammeln.«
Patrick setzte sich an den Küchentisch und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Na ja, aber wenn die Sonne scheint, macht auch das mehr Spass.«
Pfeifend erschien jetzt auch Maja in der Küche und schnappte sich, ohne abzusitzen, vom Tisch ein Stück Käse. Sie blickte zum Fenster hinaus und rief: »Ach, ist das Leben schön! Statt im Büro zu sitzen, streifen wir durch die Bergwelt, lassen uns die Sonne auf den Pelz scheinen und sammeln nebenbei ein paar Pflanzen ein. Was könnte man noch mehr wollen? Lea, was ist dein Ziel heute?«
Widerwillig löste Lea ihren Blick von Patrick und wandte sich Maja zu. »Ich möchte gerne die trockenen Rasenhänge nordwestlich des Gagenhaupts nochmals gründlich überprüfen. Es ist ziemlich steil dort, aber bei diesem guten Wetter sollte das ungefährlich sein. Begleitest du mich, Maja?«
Maja nickte eifrig. »Ja, gerne, schon der Sicherheit wegen gehen wir besser zu zweit. Und in diesen trockenen Hängen sollte auch das eine oder andere seltene Gras für meine eigene Arbeit zu finden sein.«
Lea Bucher, Maja Oberle und Patrick Ingold verbrachten zusammen den Sommer in Zermatt, um Daten und Material für ihre Doktorarbeiten zu sammeln. Die Universität hatte ihnen im Dorf eine Vierzimmerwohnung vermittelt, in der sie nun als WG zusammenlebten. Alle drei hatten in Bern Biologie studiert und spezialisierten sich nun auf ein Fachgebiet. Lea untersuchte die Habichtskräuter und verwandte Pflanzen, Maja die Verteilung von Süss- und Sauergräsern und Patrick die Heuschrecken der Region Zermatt. Wenn es das Wetter zuliess, waren sie täglich unterwegs, um die kurze Sommersaison möglichst gut auszunützen. Den ganzen Winter über würden sie dann sehr viel Zeit haben, um in Bern die gesammelten Daten und Belege zu analysieren und zu beschreiben.
»Und du, schöner Mann, wo gehst du heute hin?«, fragte Maja mit einem Augenaufschlag.
Lea hielt es nicht mehr aus und musste ihren Blick abwenden. Patrick biss herzhaft in sein Butterbrot und liess sich Zeit zum Kauen, bevor er antwortete.
»Ich will nochmals in Richtung Trift hinaufsteigen. Ich habe immer noch die Hoffnung, dort den Myrmeleotettix maculatus zu finden.«
»Was für ein schöner Name für eine Heuschrecke«, warf Lea ein, »aber willst du wirklich an einem so heissen Tag wie heute diesen steilen Südhang hinaufkraxeln?«
»Ein wenig leiden für die Forschung muss man eben schon können«, erwiderte Patrick lachend. »Aber ihr zwei habt es ja bequem. Könnt gemütlich mit der Bahn bis Riffelberg fahren und dort botanisieren, ohne ins Schwitzen zu kommen.«
Maja streckte Patrick die Zunge heraus. »Ha, ha, du wirst ja ganz grün vor Neid…«
Lea ballte unter dem Tisch kurz die Faust und erhob sich dann ruckartig. »So, genug geschwafelt. Wir müssen den schönen Tag ausnützen. Maja, wir nehmen den acht Uhr dreissig Zug.« Lea verliess eilig die Küche.
Maja und Patrick blickten sich verdutzt an. »Mensch, ist die aber eifersüchtig…«, flüsterte Maja, »aber warum nur? Wir haben doch überhaupt nichts miteinander!«
Lea und Maja hätten eigentlich beste Freundinnen sein können, wenn nur nicht immer wieder diese Eifersuchtsgeschichte dazwischengekommen wäre. In Vielem waren sie sich sehr ähnlich. Ihre Liebe zur Pflanzenwelt und zu den Bergen, ihre natürliche, unkomplizierte Wesensart, ihr schlichtes Auftreten, was Kleidung und Schminke betraf, ihre seriöse Arbeitsauffassung, all dies teilten die beiden jungen Frauen. Aber so unkompliziert Lea im Umgang mit dem eigenen Geschlecht war, so zurückhaltend, beinahe ängstlich, gab sie sich gegenüber Männern, die ihr gefielen. Maja hingegen hatte zu jedem Mann sofort einen Draht und begann mit ihm, ganz ohne Hintergedanken, problemlos ein lockeres und lustiges Gespräch. Lea musste sich eingestehen, dass sie in diesem Punkt ausgesprochen neidisch auf ihre Kollegin war. Richtig bewusst war ihr das aber erst diesen Sommer geworden, seit sie mit Maja und Patrick im selben Haushalt lebte.
Claudia und Daniel Vontobel erschienen als erste Gäste im Frühstückssaal des Hotels Steinbock.
»Guten Morgen, Herr und Frau Vontobel! Gut geschlafen?« Wie jeden Morgen begrüsste Hotelassistentin Monika Maier die Gäste mit ihrem bezaubernden Lächeln. Die meisten Hotelgäste freuten sich an ihrem freundlichen Tiroler Dialekt und ihrem kecken Dirndl, und