Gornerschlucht. Urs W. Käser

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Gornerschlucht - Urs W. Käser

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      »Wissen Sie auch, was heute für ein besonderer Tag ist?«, kam ihm die Österreicherin zu Hilfe.

      Daniel blieb stehen und wandte sich um. »Natürlich, jetzt, wo Sie fragen… Das Matterhorn-Jubiläum!«

      Monika Maier lachte kurz auf. »Richtig, Herr Vontobel! Genau heute vor 150 Jahren wurde das Matterhorn zum ersten Mal bestiegen. Leider nicht von Österreichern…«

      Daniel grinste. »Nein, da waren die Schweizer und die Engländer schneller und mutiger. Wissen Sie, auch heute noch sind die Schweizer nicht zu unterschätzen…«

      Daniel hatte sich unterdessen der hübschen Assistentin genähert und blickte wie gebannt in ihre grünen Augen.

      »Kommst du endlich, Daniel?«, tönte es vom Buffet her.

      »Ehm, ja, sofort…«, rief er zurück. »Sie entschuldigen mich?«, flüsterte Daniel der Assistentin mit einem Augenzwinkern zu und wandte sich um.

      Kaum hatten Claudia und Daniel mit ihren gefüllten Tellern am weiss gedeckten Tisch Platz genommen, erschien Hoteldirektor Balthasar Biner im Saal.

      Er blickte sich kurz um und eilte dann auf ihren Tisch zu. »Oh, Sie sind aber früh aufgestanden heute! Guten Morgen! Es steht wohl etwas Besonderes auf dem Programm?«

      »In der Tat«, bestätigte Claudia Vontobel, »wir steigen heute zu Fuss zum Gornergrat hinauf und übernachten dort oben im Hotel. Wissen Sie, mein Geburtstagsgeschenk für meinen Mann.«

      »Oh, ein ganz besonderes Geschenk! Und dann noch bei diesem traumhaften Wetter! Ich wünsche Ihnen jedenfalls eine unvergessliche Tour!« Biner eilte weiter, ohne im Entferntesten zu ahnen, welch besondere Wahrheit er mit seinen letzten Worten ausgesprochen hatte.

      Lea und Maja waren mit der Gornergratbahn bis zur Station Riffelberg gefahren und hatten dann in einer halben Stunde Fussmarsch ihr heutiges Untersuchungsgebiet auf rund 2‘400 Metern Höhe erreicht. Mit Erleichterung hatte Lea bemerkt, dass sich ihre morgendliche aggressive Stimmung mit jedem Schritt in der klaren Bergluft mehr und mehr verflüchtigte, und dass sie schliesslich wieder ganz freundschaftlich mit Maja umgehen konnte. Die Studentinnen legten ihre Rucksäcke ab und bestaunten zunächst die phänomenale Aussicht, die sich ihnen darbot.

      Unter ihnen erstreckte sich der breite, von unzähligen Spalten zerklüftete Eisstrom des Gornergletschers. Darüber flimmerte die riesige, vollkommen eisgepanzerte Nordflanke des Breithorns, rechts davon ragte, wie ein Eckzahn, der Felsgipfel des sogenannten Kleinen Matterhorns aus der Gletscherfläche, und ein Stück weiter rechts erhob sich die riesige Pyramide des echten Matterhorns in den tiefblauen Himmel. Links vom Breithorn war noch ein Teil des mächtigen Liskamms zu sehen, während der Monte Rosa, der höchste Gipfel auf Schweizer Boden, von einem Felsvorsprung verdeckt wurde. Die Pracht des Hochgebirges war einfach unbeschreiblich!

      Nach gebührender Würdigung der Fernsicht packten Lea und Maja ihre wenigen Hilfsmittel aus – Bleistifte, Notizheft, Lupe und Pflanzenbücher – und begannen, jede für sich, den steilen, mit Gräsern und zahllosen Alpenblumen bewachsenen Südwesthang systematisch zu untersuchen. Sie machten sich eifrig Notizen, welche Arten von Pflanzen sie vorfanden, und immer wenn sie etwas Besonderes fanden oder etwas, das sie nicht sicher kannten, verstauten sie die Pflanze in einem Plastiksäckchen, um sie zuhause noch detaillierter anzuschauen und dann zwischen alten Zeitungsseiten für das Herbar zu trocknen.

      Um halb zwölf trafen sich Lea und Maja wieder bei ihren Rucksäcken, um eine Pause zu machen.

      »Mensch, ist das extrem heiss heute«, sagte Maja, wischte sich den Schweiss von der Stirn und setzte ihre Wasserflasche an die Lippen.

      »Ja, das finde ich auch«, bestätigte Lea, »aber das ist mir doch viel lieber als der kalte Nebel am letzten Freitag.« Lea nahm einen grossen Schluck aus ihrer Wasserflasche, und dann zeigte sie auf den gegenüberliegenden Hang, auf dem ein Zickzackweg in die Höhe führte. »Du, warum sieht man eigentlich nie jemanden auf diesem Wanderweg da drüben? Wo kommt denn der überhaupt her?«

      Maja entfaltete ihre Wanderkarte. »Aha, jetzt habe ich es. Der Weg kommt von der Gornerschlucht hoch und ist weiter unten sehr steil. Kein Wunder, dass da heute bei dieser Hitze niemand hochsteigt.«

      Lea hielt sich, um von der Sonne nicht geblendet zu werden, eine Handfläche vor die Stirn.

      »Doch, dort unten kommt tatsächlich jemand!«, rief sie aus und setzte dann ihr Fernglas an die Augen. »Eine Frau und ein Mann, beide mit Rucksack. Puh, werden die schwitzen auf dem steilen Weg in praller Sonne!«

      »Ich kann es mir lebhaft vorstellen!«, lachte Maja mit.

      Zehn Minuten später waren die beiden Wanderer auf gleicher Höhe wie die Studentinnen angelangt. Aus einem Abstand von vielleicht zweihundert Metern winkten sie ihnen freundlich zu und setzten dann ihren Aufstieg fort.

      Lea nahm nochmal das Fernglas. »Den Mann kenne ich doch. Aber woher bloss? Den habe ich ganz sicher schon öfter in Bern gesehen. Wo könnte das nur gewesen sein?«

      »Hör am besten auf nachzudenken«, schlug Maja vor, »dann fällt es dir bald von selber ein.« »Du hast recht. Machen wir uns wieder an die Arbeit?«

      »Liebe Herr und Frau Vontobel, willkommen in unserem Hotel auf dem Gornergrat, dem schönsten Aussichtspunkt der Schweiz!« Hotelassistentin Patrizia Werlen streckte den verschwitzten und staubigen Wanderern die Hand entgegen. »Sind Sie wirklich den ganzen Weg zu Fuss hier heraufgekommen?«, fragte sie mit einem leisen Zweifel in der Stimme.

      »Oh ja«, bestätigte Claudia Vontobel und strich sich die feuchten blonden Haare aus der Stirn, »wir sind geübte Bergwanderer und regelmässig in Zermatt im Urlaub. Auch auf dem Gornergrat waren wir schon etliche Male.«

      »Aber… hier übernachtet haben Sie noch nie?«

      »Nein, das ist ein Geburtstagsgeschenk für meinen Mann.«

      Patrizia Werlens Augen begannen zu leuchten. »Oh, was für eine originelle Idee für ein Geschenk! Dann scheint ja Ihre Partnerschaft unter einem guten Stern zu stehen.«

      Etwas verlegen blickten sich die beiden Angesprochenen in die Augen.

      »Hier ist Ihr Zimmerschlüssel«, fuhr die Assistentin fort, »ab sieben Uhr werden Sie zum Abendessen erwartet, und das Frühstück können Sie zwischen sieben und zehn Uhr geniessen. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Aufenthalt bei uns im Hochgebirge. Und übrigens… Falls Sie eine romantische Ader haben: Sonnenuntergang ist heute um zwanzig Uhr sechsundfünfzig, Sonnenaufgang morgen um sechs Uhr elf.«

      »Oh, danke«, antwortete Claudia, »wir werden uns gerne danach richten…«

      Bruno und Barbara Fuchs verbrachten ihren Zermatter Urlaub schon zum siebten Mal im Hotel Bellavista, einem kleineren, sehr sympathischen Familienbetrieb. An Mahlzeiten wurde im Hotel nur das Frühstück angeboten. Aber was für ein Frühstück! An einem solchen Selbstbedienungsbuffet konnte man sich kaum sattsehen! Es war aussergewöhnlich reichhaltig und so exzellent, dass der Gast es kaum schaffte, die Morgenmahlzeit irgendwann auch wieder zu beenden. Der Hoteldirektor hatte früher als Koch gearbeitet und liess es sich nicht nehmen, Brot und Gebäck für das Frühstücksbuffet selber herzustellen. Das Buffet quoll beinahe über an Köstlichkeiten: Brote, Brötchen und Gebäck in jeder Grösse und Geschmacksrichtung, eine grosse Auswahl an Käse und Fleischwaren, hausgemachte Konfitüren, Fruchtsäfte, frische Früchte,

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