Gornerschlucht. Urs W. Käser
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Читать онлайн книгу Gornerschlucht - Urs W. Käser страница 6
»Und wie beurteilst du unseren gestrigen Jubiläumstag?«
Klara strahlte richtiggehend. »Auch damit bin ich zufrieden. Die Lichterkette am Matterhorn ist genial, und praktisch alle Zeitungen und Zeitschriften der Welt haben das Thema aufgegriffen. Zermatt ist buchstäblich in aller Munde!«
Walter lachte herzlich. »Also genau das, was eine Tourismusdirektorin glücklich macht.«
Klara boxte ihren Kollegen freundschaftlich in die Rippen. »Warum nicht? Du wirst sehen, die nächste Saison wird noch besser als diese. Und du, Pirmin, bist du auch zufrieden?«
Pirmin Perren machte ein saures Gesicht. »Nun ja, im Grossen und Ganzen schon.«
»Weisst du«, fügte Walter hinzu, »er nagt immer noch an seinem Ärger wegen dieses Halunken Vontobel.«
»Ach ja, ich habe davon reden hören. Da hattest du einfach Pech, Pirmin, das könnte doch jedem passieren.«
»Na ja, vielleicht schon. Achtung, unser Essen kommt.«
Claudia Vontobel hatte zum Lunch eine Suppe bestellt und es sich danach wieder im hoteleigenen Wintergarten gemütlich gemacht. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden, und der neue Kriminalroman eines Berner Autors zog sie vollkommen in den Bann. Als Claudia wieder auf ihre Uhr sah, war es bereits zehn nach vier. Sie verliess den Wintergarten und traf in der Halle auf Monika Maier.
»Sagen Sie, Frau Maier, Sie haben nicht etwa meinen Mann heimkommen sehen? Merkwürdig, dass er immer noch nicht da ist.«
Die Assistentin verneinte. Claudia bestellte noch einen Tee und ging zurück zu ihrem Kriminalroman. Gegen achtzehn Uhr kam sie wieder in die Halle, und diesmal sass Direktor Biner an der Rezeption und prüfte am Computer die Buchungen.
»Herr Biner, ich mache mir grosse Sorgen. Mein Mann müsste doch längstens zurück sein! Und auf dem Handy ist er unerreichbar. Es scheint so, als wäre es ausgeschaltet. Wenn ich nur wüsste, welche Route er auf dem Abstieg vom Gornergrat genommen hat!«
Biner schaute zu ihr auf. »Ja, Frau Vontobel, ich verstehe Ihre Sorge gut. Aber sehen Sie, ich durfte schon oft erleben, wie ein vermeintlich Verschwundener irgendwo aufgehalten wurde und dann wohlbehalten zurückgekehrt ist. Und auf dem Handy hat man leider an vielen Stellen rund um Zermatt keinen Empfang. Ich sehe also noch keinen Grund zu grosser Sorge. Ich schlage deshalb vor, Sie begeben sich jetzt zum Abendessen, und Ihr Mann wird sicher bald dazu stossen.«
»Ehrlich gesagt glaube ich nicht mehr so recht daran. Sollten wir nicht die Polizei verständigen?«
Biner dachte an den jetzt in der Hochsaison chronisch überlasteten Zermatter Rettungsdienst. Täglich gab es Bergunfälle irgendwo auf den Viertausendern, da mussten die Rettungsmannschaften konstant Überstunden einlegen. Nein, heute Abend würde niemand mehr auf die Suche nach einem vermissten Wanderer gehen.
»Ich empfehle Ihnen, noch etwas zuzuwarten.« Kopfschüttelnd ging Claudia Vontobel in Richtung Speisesaal.
»Papa ist verschwunden!« Nadja klopfte an die Schlafzimmertür ihres Bruders. Da sie keine Reaktion vernahm, öffnete sie langsam die Tür. Thomas sass auf seinem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, mit grossen Kopfhörern über den Ohren und einem Buch auf den Knien.
Als er Nadja sah, streifte er die Kopfhörer ab. »Was hast du gesagt?«
»Mama hat soeben angerufen. Papa ist verschwunden! Er wollte allein vom Gornergrat absteigen und ist nicht in Zermatt angekommen. Und auf dem Handy meldet er sich auch nicht. Ach, Thomas, es muss etwas Schlimmes passiert sein!« Nadja warf sich auf das Bett ihres Bruders und begann zu schluchzen.
Thomas umfasste ihren Kopf. »Nun beruhige dich doch, Schwesterherz. Es wird sich bestimmt alles aufklären.«
Nadja schniefte hörbar. »Aber es ist elf Uhr nachts, und Papa irrt vielleicht irgendwo zwischen den Felsen umher! Oder ist abgestürzt! Wir müssen ihn doch suchen gehen!«
»Bitte, Nadja, sei vernünftig! Jetzt in der Nacht kann man nicht suchen gehen. Wenn er morgen früh immer noch nicht da ist, wird Mama bestimmt die Polizei einschalten. Denk doch mal nach. Es wäre beileibe nicht das erste Mal, dass unser Vater im Bett einer anderen Frau übernachtet…«
Nadja schaute ihren jüngeren Bruder zweifelnd an. »Spar dir deine dummen Sprüche. Ich mache mir echt mega Sorgen. Bestimmt werde ich heute Nacht kein Auge zu tun.«
»Trink doch noch ein grosses Bier, das beruhigt wunderbar.«
Nadja erhob sich und wandte sich kopfschüttelnd zur Türe. »Wieder mal typisch Mann, macht dumme Lösungsvorschläge, statt Empathie zu zeigen…«
»Gute Nacht, Frau Psychologin«, rief ihr Thomas ärgerlich hinterher und zog wieder seine Kopfhörer über.
Donnerstag, 16. Juli 2015
Lea wachte früh auf. Zum Glück habe ich ein eigenes Zimmer, dachte sie, da kann ich einschlafen und aufstehen, wann ich will. So wie zuhause in meiner Zweizimmerwohnung in Bern. Es war erst halb sechs, und Lea beschloss, noch etwas liegenzubleiben. Bald blieben ihre Gedanken an den letzten Tagen hängen, an Patrick, an ihrer Eifersucht auf Maja, an ihrem doch noch gelungenen gemeinsamen Exkursionstag in der Höhe. Aber schliesslich dachte sie nur noch an Patrick. Wie lange sie sich schon kannten! Schon am ersten Tag ihres Studiums, vor nunmehr sieben Jahren, war er ihr aufgefallen, mit seinem hübschen Gesicht und seiner lockeren und trotzdem bescheidenen Art. Richtig zusammengekommen waren sie dann leider nie. Flirts hatte es immer wieder gegeben, und einige Male hatten sie auch rumgeschmust und sich geküsst. Aber immer war danach etwas dazwischengekommen. Sei es, dass sie Streit bekamen, sei es, dass sich Patrick oder Lea anderweitig verliebte. Aber irgendwie blieben sie stets miteinander vertraut, und vor allem Lea hatte regelmässig neue Anfälle von Verliebtheit, gepaart mit der entsprechenden Eifersucht, wenn sie dann Patrick mit anderen Frauen schäkern sah. Ganz schlimm war es aber erst diesen Sommer geworden, seit sie mit Patrick und Maja in dieser Zermatter WG wohnte. Lea war ziemlich sicher, dass Maja gar nicht wirklich verliebt in Patrick war. Aber ihre offene, fröhliche, unkomplizierte Art, mit Patrick umzugehen, weckte permanent Leas Eifersucht. Zudem hatte die ständige Nähe zu Patrick ihre Gefühle für ihn erneut aufflammen lassen. Es kann wirklich so nicht weitergehen, grübelte sie. Ich muss so bald wie möglich das Gespräch mit ihm suchen und herausfinden, wie es wirklich um seine Gefühle steht! Wenn er mich nicht liebt, soll er mir klaren Wein einschenken. Und wenn er mich liebt… ach, wäre das himmlisch…
Paul Pfammatter betrachtete die mittelgrosse, schlanke, blonde Frau, die soeben den Polizeiposten betreten hatte. Sie wirkte nervös, und von ihrem Aussehen her tippte er auf eine amerikanische Touristin. Sie war elegant gekleidet, perfekt frisiert und auffällig geschminkt. Doch er hatte sich geirrt, die Frau sprach ihn auf Berndeutsch an.
»Guten Tag, Herr…?«
»Polizist Pfammatter, guten Morgen, was kann ich für Sie tun?«
»Sehen Sie, Herr Polizist, ich komme, weil, ehm, mein Mann, Daniel Vontobel, verschwunden ist.«
Pfammatter stöhnte innerlich auf. Geschichten von angeblich verschwundenen Männern, das bekam er immer und immer wieder zu hören. In der Regel tauchten diese Männer nach ein oder zwei Tagen ganz friedlich wieder auf, und der ganze Aufwand für die Vermisstenanzeige