Gornerschlucht. Urs W. Käser
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Читать онлайн книгу Gornerschlucht - Urs W. Käser страница 9
Barbara schüttelte ihren Kopf. »Na gut, dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich gehe jetzt ins Hotel und versuche, mich von dem ganzen Schrecken zu erholen.«
»Bruno Fuchs, Hausarzt in Pension«, sagte er und schüttelte der jüngeren Frau im weissen Arztkittel die Hand.
»Doktor Annette Meyer, freut mich, Herr Kollege. Kommen Sie, schauen wir uns die Bescherung an.«
Sie ging voran in einen kleinen Nebenraum, wo der Tote auf einem Schragen lag, und nahm einen Zettel zur Hand.
»Laut Personalausweis, den wir beim Verstorbenen gefunden haben, handelt es sich tatsächlich um diesen, ehm, Daniel Vontobel, den seine Frau gestern Morgen als vermisst gemeldet hat. Wissen Sie, Polizist Pfammatter hat mich vor einer halben Stunde telefonisch orientiert. Der Mann sei allein vom Gornergrat abgestiegen, das würde zum Fundort passen. Offenbar ist er vom Weg abgekommen und abgestürzt. Seine Frau wird ihn natürlich noch identifizieren müssen.«
Bruno Fuchs sah nachdenklich auf die Leiche hinunter. »Darf ich ihn kurz untersuchen?«
»Bitte sehr, machen Sie nur. Soweit ich gesehen habe, hat er sich beim Sturz das Genick gebrochen und war sofort tot. Ich schätze, das war vor zwei oder drei Tagen.«
Bruno Fuchs ging langsam um den Toten herum und tastete ihn an mehreren Stellen ab. »Merkwürdig, sehr merkwürdig…«, murmelte er.
»Stimmt denn etwas nicht?«, fragte Annette Meyer neugierig.
Der pensionierte Hausarzt schüttelte langsam den Kopf. »Den Bruch des Halses und den Todeszeitpunkt, das beurteile ich gleich wie Sie. Aber hier, sehen Sie, diese Wunde am Hinterkopf, die gefällt mir nicht. Das sieht für mich gar nicht wie eine Sturzwunde aus, eher so, als sei da mit einem harten Gegenstand draufgeschlagen worden, oder als sei ein Stein mit grosser Wucht darauf gefallen.«
Die Ärztin sah sich die Wunde sorgfältig an. »Ja, Sie könnten durchaus recht haben. Ich sollte wohl doch besser eine Autopsie beantragen.«
Bruno Fuchs nickte zustimmend und verabschiedete sich. Annette Meyer rief den Rechtsmediziner Tobias Imesch in Sitten an, und dieser sicherte ihr zu, die Obduktion noch am selben Tag vorzunehmen.
Eine Stunde später traf Claudia Vontobel im Spital Brig ein. Polizist Pfammatter war zu ihr ins Hotel gekommen, hatte ihr die traurige Nachricht von der Bergung ihres Mannes überbracht und sie gebeten, zur Identifikation so schnell wie möglich nach Brig zu fahren. Auch hatte er sie ersucht, bis auf weiteres in Zermatt erreichbar zu bleiben. Im Spital wurde Claudia Vontobel von Annette Meyer mit einem warmen Händedruck empfangen. Nach einem kurzen Gespräch führte die Ärztin sie zum leblosen Körper. Claudia Vontobel warf nur einen kurzen, traurigen Blick auf ihn, nickte und wendete sich wieder ab. Ohne zu zögern unterschrieb sie dann das Identifizierungs-Formular. Als die Ärztin sie, ohne irgendwelche Gründe dafür zu nennen, über die bevorstehende Obduktion informierte, zuckte Claudia Vontobel nur stumm mit den Achseln und verabschiedete sich dann rasch. Zehn Minuten später befand sich der Tote schon auf dem Weg ins Spital Sitten.
Konzentriert blickte Lena Pieren auf ihren Bildschirm. Sie war noch nicht ganz zufrieden mit ihrem Entwurf des Fragebogens, mit dem die grosse Umfrage unter den Feriengästen von Zermatt gemacht werden sollte. Lena wusste, dass die Ergebnisse einer Umfrage niemals präziser sein konnten, als es die den Leuten gestellten Fragen waren. Die Qualität des ganzen Projektes basierte also entscheidend auf der Qualität des Fragebogens. Deshalb verwendete sie sehr viel Zeit darauf, die Art der Fragen immer wieder zu überdenken und zu optimieren. Was die ganze Sache erschwerte, waren die Übersetzungen in andere Sprachen. Diese mussten einerseits präzise sein, andererseits der Mentalität der fremden Sprache angemessen. Besonders wichtig war dies bei den asiatischen Sprachen. Andernfalls könnten die Gäste aus Asien die Fragen anders auffassen, als sie gemeint waren, und die Ergebnisse würden verfälscht oder im schlimmsten Fall sogar unbrauchbar. Deshalb hatte Lena für alle Übersetzungen auf Fachpersonen der jeweiligen Muttersprache zurückgegriffen.
»Sehr fleissig, Lena!« Klara Kalbermatten, die Chefin von Zermatt Tourismus, war unvermittelt ins Büro getreten. »Wie geht es mit dem Fragebogen?«
»Doch, er ist auf gutem Weg. Lies ihn doch bitte mal durch. Hier, siehst du, vier Seiten mit insgesamt dreissig Fragen, schön gruppiert in sechs Themenbereiche. Ich denke, es braucht noch etwas Feinarbeit zur Optimierung der Fragestellungen. Aber bis Ende Monat sollte ich es schaffen.«
Klara überflog die bedruckten Blätter. »Macht mir einen guten Eindruck. Präzise und verständlich. Beinahe perfekt, würde ich meinen. Wie steht es mit den Übersetzungen?«
«Ehm, ja, das ist teilweise mühsam. Englisch, Italienisch, Französisch und Spanisch sind bis Ende Juli zugesichert, aber von den Übersetzern in Portugiesisch, Russisch, Hindi, Japanisch, Chinesisch, Koreanisch und Arabisch habe ich noch keine definitiven Termine erhalten.«
Klara zog die Stirn in Falten. »Das gefällt mir weniger. Ursprünglich wollten wir ja Mitte Juli mit allem bereit sein. Jetzt scheint sogar der erste August als Starttermin gefährdet. Du musst lernen, unseren Partnern mehr Druck aufzusetzen, Lena. Sonst denken die schnell, ach, es eilt ja nicht besonders, die können ruhig warten. Lena, ich erwarte von dir, dass du bis morgen Abend alle Säumigen gemahnt hast. Ende Juli ist und bleibt definitiver Abgabetermin.«
»Ja, ich mache es.« Lenas Stimme war ganz leise und ihre Augen schimmerten feucht.
Ohne darauf einzugehen, verliess Klara das Büro. Lena seufzte auf, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und liess ihren Tränen freien Lauf.
Samstag, 18. Juli 2015
»Guten Morgen, Paul. Störe ich noch beim Frühstück?«
Gregor Guntern hatte sich für den Samstagsdienst eingeteilt, während Paul Pfammatter frei hatte, aber auf Pikett bleiben und im Notfall verfügbar sein musste. Giovanni, der jüngste, war vorläufig noch vom Wochenenddienst befreit.
»Tag Gregor. Nein, ich bin gerade am Zeitunglesen. Offenbar gibt’s Neuigkeiten, wenn du dich telefonisch bei mir meldest.«
»Allerdings, und was für welche! Rechtsmediziner Tobias Imesch aus Sitten hat mir soeben seinen Bericht per E-Mail durchgegeben. Sieht ganz nach Mord und Totschlag aus. Der vermisste Daniel Vontobel, wohnhaft in Bern, starb infolge eines gezielten Schlages mit einem harten Gegenstand auf den Hinterkopf, möglicherweise einem Hammer. Erst nach Eintritt des Todes folgte der Sturz in das Felsloch, der zum Genickbruch führte. Folglich muss der Mann umgebracht worden sein.«
»Ach je, das kommt allerdings überraschend. Ein Totschlag auf dem Wanderweg, ist wirklich ungewöhnlich.«
»Du hast doch mit der Ehefrau gesprochen, Paul. Hast du dabei irgendetwas über das Umfeld des Verstorbenen erfahren?«
»Noch nicht. Sie erzählte nur, dass sie im Hotel Steinbock Urlaub machen und am Dienstag zu einer zweitägigen Tour auf den Gornergrat aufgebrochen waren. Da sich die Frau am Mittwochmorgen unwohl fühlte, fuhr sie nach dem Frühstück mit der Bahn direkt nach Zermatt hinunter, während der Mann sich zu Fuss auf den Weg ins Tal machte. Der Mann kam aber nicht in Zermatt an. Natürlich müssen wir alle diese Angaben noch überprüfen.«
»Danke, Paul. Ich wäre dir dankbar, wenn du heute nochmals mit der Frau sprechen und ihre Aussagen verifizieren könntest. Hättest zu Zeit?«