Im Westen geht die Sonne unter. Hansjörg Anderegg
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»Du lieber Himmel«, rief sie laut aus. 263 ungelesene Meldungen!
»Was habe ich gesagt?«, grinste Minimax.
Während sie die erste Nachricht las, eine kurze Instruktion, was mit den andern Texten zu tun war, trafen laufend neue Meldungen ein. Genervt stellte sie den Alarm auf stumm. Ihre erste Aufgabe bestand darin, hunderte chinesischer Texte zu übersetzen und zu katalogisieren. Als Hilfe hatte man die Nachrichten bereits mit dem hausinternen Übersetzungsprogramm bearbeitet. Nach den ersten paar Wörtern schaltete sie diese Hilfe kopfschüttelnd aus. Sie wollte sich die Sisyphusarbeit nicht noch schwerer machen.
Das Kindergesicht erschien wieder. »Man muss ihn sich verdienen, wie ich sagte. Aber sieh’s mal positiv: du brauchst Bob wenigstens keinen Kaffee zu kochen. Er kann ihn nicht ausstehen.«
Bob besaß also keinen Spitznamen. Interessant
Kapitel 3
Bristol, UK, Vier Jahre später
Kaum betrat Ryan den Balkon im Obergeschoss des weißen Häuschens an der Dove Street, begann der Katzenjammer.
»Ich bin gleich unten, Mr. Meriwether, keine Sorge«, rief er zum plärrenden Kater hinunter. Er wusste nicht einmal, ob Mr. Meriwether eine Sie oder ein Er war, aber er hatte sich für Kater entschieden. Das Tier gehörte niemandem im Haus, auch keinem unmittelbaren Nachbarn. Es war ihm kurz nach seinem Einzug in Bristol zugelaufen und hatte ihn sofort ins Herz geschlossen. Jeden Morgen wartete Mr. Meriwether an der Haustür und begann erbärmlich zu jammern, sobald er ihn erblickte.
Ryan ging in die Küche, legte ein paar Garnelen auf einen Teller und goss etwas Milch in eine zweite Schüssel. Wie üblich stieg er mit der Mappe unter dem Arm und einem Teller in jeder Hand die Treppe hinunter. Der Tag ließ sich gut an, das fühlte er in seinen Adern. Überdies schaffte er die Strecke, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten. Er zog die Haustür mit dem Ellbogen auf, ein Kunststück, das er nach monatelanger Übung perfekt beherrschte. Mr. Meriwether drängte sich freudig schnurrend zwischen seine Beine, sobald er aus der Tür trat. Niemals hätte das eigenwillige Tier einen Fuß ins Haus gesetzt. Ryan stellte das Futter unter das Vordach. Er kraulte Mr. Meriwethers Pelz eine Weile, während er sich mit ihm über das zu erwartende Unwetter unterhielt. Der Kater war schwarz wie ein Kaminfeger. Sein Fell hatte viel vom jugendlichen Glanz verloren. Ryan wurde den Verdacht nicht los, Mr. Meriwether mache ihm nur schöne Augen, um seine karge Rente aufzubessern. Plötzlich ließ der Kater von ihm ab und wandte sich dem Futter zu. Seine Pflicht war getan. Mr. Meriwether erwartete nichts anderes. Nach dem Mahl würde er sich wie jeden Tag verdrücken und erst am nächsten Morgen wieder vor der Haustür jammern. Ein Tagesablauf, der sich gut mit seinem deckte. Auch er verließ morgens das Haus, um oft erst spät in der Nacht zurückzukehren.
»Soll ich Ihnen etwas vom Markt besorgen, Doktor?«, rief ihm die Hauswirtin nach, als er schon auf der Straße stand. Mrs. Harper konnte nicht verstehen, wie ein erwachsener junger Mann allein und ohne ausreichende Vorräte in dieser großen Wohnung leben konnte. Und sie wollte nicht begreifen, dass er noch kein Doktor war, trotz seiner Erklärungsversuche.
»Nein, vielen Dank. Ich esse im Institut.«
»Sie arbeiten zu viel und essen zu wenig«, war das Letzte, was er von der guten Frau hörte, bevor er um die Ecke verschwand. Mrs. Harpers Haus lag nahe bei der Universität. Eine bescheidene Bleibe, aber er konnte seinen Wagen auf dem Parkplatz am Straßenrand stehen lassen. In zehn Minuten war er zu Fuß am Arbeitsplatz, ein Luxus, den er bis zur letzten Minute auskosten wollte. Noch ein Jahr, dann sollte seine Dissertation abgeschlossen sein. Was dann, mit dem PhD in der Tasche, aus ihm werden sollte, wusste er beim besten Willen nicht. Fest stand einzig, dass er Jessie heiraten würde, und wenn er dafür nach Weymouth umziehen müsste. Ein schier unlösbares Problem, dachte er nicht zum ersten Mal. Mit seinen Qualifikationen als Finanzmathematiker gab es für ihn im ganzen Vereinigten Königreich nur einen vernünftigen Ort, wo er Karriere machen konnte: die Londoner City. Aber Jessie schlug immer tiefere Wurzeln im idyllischen Küstenstädtchen am Kanal. Er verdrängte den unangenehmen Konflikt und begann sich geistig auf die Besprechung mit seinem Doktorvater vorzubereiten, während er das Spalier der stramm stehenden Erker mit den weiß getünchten Fensterrahmen abschritt.
Irwyns Parkplatz vor dem braungrauen Backsteingebäude war leer. Ein untrügliches Zeichen, dass der Professor noch nicht da war. Irwyn Saunders – Irwyn, walisisch, nicht Irwin, englisch – bewegte sich außer Haus nur in seinem feuerroten MG SA aus dem Jahr 1938. Unkaputtbare, traditionelle britische Qualität, für die er die ganze Freizeit und sein halbes Vermögen einsetzte. Er stellte das Museumsstück ausschließlich auf seinem zugewiesenen Platz unmittelbar neben dem Eingang ab. Es war schon vorgekommen, dass er wieder nach Hause zurückfuhr, nur weil ein verblödeter Ignorant es gewagt hatte, seinen Platz zu besetzen.
Die asthmatische Hupe des MG stoppte Ryan, bevor er den Torbogen erreicht hatte. Irwyn begrüßte ihn mit einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, schüttelte seinen Pferdeschwanz und fragte:
»Etwas Brauchbares dabei?«
Ryan hatte sich an die kühnen Gedankensprünge des Professors gewöhnt, aber die Frage erwischte ihn kalt. »Dabei – wobei?«, stammelte er verblüfft.
Irwyn warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Ich verstehe ja, dass dich die Arbeit nicht antörnt. Geht mir auch so, deshalb überlasse ich sie dir. Aber die Übungen müssen nun mal korrigiert werden.«
»Ach du grüne Neune!«, rief Ryan aus. Er blieb stehen und spürte, wie sein Gesicht rot anlief. »Mist. Total vergessen, tut mir leid. Ich habe die halbe Nacht an den Auswertungen gefeilt.«
»Ist ja noch nicht zu spät«, beruhigte Irwyn spöttisch. »Ich brauche die Korrekturen erst am Nachmittag.«
Mit einem unterdrückten Fluch trottete er hinter dem Professor her ins Haus. Die Zeit, die er mit der Routinearbeit eines Assistenten vergeudete, hätte er dringend für seine Studie der Finanzblasen benötigt. Er war im Verzug, sein Zeitplan drohte durcheinanderzugeraten. Wenn er die dreizehn Übungsblätter des akademischen Nachwuchses bis Mittag korrigieren wollte, musste er die Besprechung mit Irwyn kurz halten. Nicht gut. Gerade jetzt brauchte er seinen Rat, um den Schwerpunkt der Dissertation neu festzulegen.
Seit zwei Jahren beschäftigte er sich mit einem unmöglichen, aber umso spannenderen Thema, der Vorhersage von Finanzblasen. Die ganze bisherige Literatur der ökonomischen Theorien ging davon aus, dass man das Platzen von Finanzblasen nicht vorhersagen kann. Bisher glaubte man, dass eine Blase erst im Nachhinein überhaupt zu erkennen sei, nachdem sie geplatzt ist. Erst nachdem die Preise für eine Kategorie von Wertpapieren, Waren oder Währungen zusammengebrochen waren, konnte man die Diagnose Finanzblase stellen. Daran glaubte er längst nicht mehr. Seine Arbeit beruhte auf den in Fachkreisen spektakulären Erkenntnissen einer Forschergruppe an der ETH Zürich aus den Jahren 2009, 2010. Physiker und Mathematiker hatten damals die These aufgestellt, dass sich Finanzblasen fru¨hzeitig erkennen lassen, bevor sie platzen und dass man voraussagen kann, wann die Blase platzen wird. Die Gruppe, die sich ›Financial Crisis Observatory‹, FCO, nannte, konnte mit ihrem ›Financial Bubble Experiment‹ tatsächlich mehrere Blasen korrekt eingrenzen. Im Gegensatz zu den gängigen Theorien ging das FCO davon aus, dass sich die Preise an den Märkten während einer Spekulationsblase superexponentiell verhalten. Die Preise stiegen nicht einfach mit einer konstanten Geschwindigkeit,