Die Toten von Rottweil. Herbert Noack
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Der Kommissar spürte plötzlich, dass er hungrig war. Vor lauter Stress hatte er die Nahrungsaufnahme vollständig vergessen und musste schleunigst etwas zu sich nehmen. Egal wo. Es würde seine Laune wieder aufhellen. Nicht weit entfernt befand sich ein griechisches Restaurant. Vielleicht würde er dort sogar jemanden treffen, den er schon eine Zeit lang nicht mehr gesehen hatte.
Im Dionysos gab es genug freie Plätze um diese Uhrzeit, der Mittagsandrang war vorbei, die meisten Gäste hatten das Lokal bereits verlassen. Nur noch zwei junge Männer saßen an ihrem Gyros. Mit einem Kopfnicken begrüßte Zeller, nachdem er eingetreten war und sich die Regentropfen vom Mantel geschüttelt hatte, den Chef und setzte sich an den etwas abseits stehenden Zweimanntisch mit Blick auf den Innenhof. An diesem Tisch saß er meistens.
Möglicherweise war das Glück ihm heute hold und er würde kommen. Noch besser wäre es, wenn er nicht alleine käme, sondern in Begleitung seiner Frau. Da konnte er ihm nicht so schnell ausweichen wie sonst gerne, wenn er ihn gewollt zufällig traf. Egal, wo er sich gerade aufhielt, Zeller würde ihn finden. Dafür waren ihm die Vorlieben des Mannes zu bekannt. Und wenn er ihn hier nicht antraf, dann würde er als Nächstes seine Schritte in Richtung Stadtpark lenken oder in den Stadtgraben. Auch am Wasserturm hing er gerne ab und mit ihm eine ganze Menge ständig wechselnder jüngerer und älterer, stellenweise polizeibekannter Leute.
Allmählich wurde Zeller die Warterei zu lang. Er saß schon mehr als eine Stunde in dem Lokal und hatte zu den beiden vom Haus spendierten Ouzos noch zwei Gläser Rotwein getrunken. Warum noch warten? Wer wusste schon, ob er heute überhaupt kommen würde. Trotzdem, einen Versuch war es wert. Er gab sich weitere zehn Minuten. Die letzte Frist. Kurz bevor er sein Unterfangen aufgeben und bezahlen wollte, kam der lang ersehnte Gast, und er war nicht allein, genau wie Zeller es sich gewünscht hatte.
Seine Angetraute war bedeutend älter als er, auf den ersten Blick um mindestens zehn Jahre. Ihre wasserstoffblonden Haare und ihr knallroter Mund sollten dies kaschieren. Dazu trug sie heute einen karierten Minirock von verbotener Kürze, nicht nur für Frauen ihres Alters. Die weißen Beine staken wie Stelzen darunter hervor, die Knie wie seltsame, kugelartige Verdickungen an dünnen Stangen.
Der Kommissar kannte auch sie seit langer Zeit und musste bei ihrem Anblick lächeln. Michaela, in den einschlägigen Fachkreisen auch Michi oder Mausi genannt, musste zeitlebens einem inneren Drang gehorchen und als unwiderstehlicher Vamp durch die Straßen der ehemaligen Reichsstadt auf hohen Highheels über das Kopfsteinpflaster stöckeln, ohne sich dabei die Knöchel zu brechen. Anders ging es bei ihr nicht. So war sie schon immer gewesen. Zeller gab sich noch nicht zu erkennen, ließ die beiden zunächst an ihrem Tisch Platz nehmen und wartete ab, bis sie bestellt hatten. Dann erst erhob er sich und schlenderte zu ihnen hinüber, um sich unaufgefordert neben den Mann zu setzen.
»Ich hätte es mir denken können, dass Sie hier sind, Herr Kommissar. Aber ich weiß nichts! Weder von dem Toten auf dem Hofgerichtsstuhl noch von denen im Turm«, begann der in bekannter Manier auf Zeller einzureden, ohne dass der Kommissar ihm eine Frage gestellt hatte.
»Warum bist du so aufgeregt? Habe ich gesagt, dass ich etwas von dir wissen will, Rainer?«
»Sie sind nie ohne Grund hier. Das wissen Sie so gut wie ich. Wahrscheinlich werden wir bald das Stammlokal wechseln. Notgedrungen. Oder, Michi, was sagst du dazu? Dann sind wir den Kommissar los.«
Michi schwieg lieber.
»Ihr werdet mich nie los, das müsste euch eigentlich klar sein. Ist doch schön, wenn man so anhängliche Freunde im Leben hat wie mich. Da ist man nie allein. Oder? Also, Rainer, was willst du mir erzählen? Was drückt auf deinem kläglichen Rest von Gewissen? Komm, erleichtere dich. Ich bin ganz Ohr.« Zeller nutzte das Überraschungsmoment gnadenlos aus. Die Zeit, sich mit seiner Begleitung abzusprechen und eine Strategie festzulegen, gab er Rainer oder besser Fluppi, wie ihn die Szene nannte, nicht. Mit seinem Outfit erschien der Kerl wie aus einer anderen Zeit. Im Gesicht trug er bis zum Unterkiefer reichende geschwärzte Koteletten, die mit dem wuchtigen Schnauzer zusammenwuchsen und einen fließenden Übergang bildeten. Seine schmalen Lippen wurden von dieser Haarpracht eingerahmt. Rainers Kinn zierte ein dünner Zopf, der vernachlässigt wirkte und hin und her baumelte wie das Pendel einer alten Uhr. Seine Kleidung bestand aus einem bunten Hawaiihemd und einer beigen Schlaghose, die allerdings nicht mehr ganz sauber war.
So kannte Zeller ihn schon seit langer Zeit. Rainer blieb sich treu. Er hatte sein Outfit seit den 70ern nicht mehr groß verändert, wie er dem Kommissar einmal stolz erklärt hatte. Außer in den vielen Jahren, die er im Knast gesessen und notgedrungen etwas anderes hatte tragen müssen. Doch diese Phase schien vorbei. In der letzten Zeit war er erstaunlich stabil und es sah so aus, als ob er sein Geld auf ehrliche Art verdiente und nicht mehr durch das Verticken verschiedener Drogen. Vielleicht war es ja die fürsorgliche Überwachung durch Zeller, die Rainer von krummen Touren schon im Vorfeld abhielt. Nur Michi machte den Eindruck, als ob sie wieder anschaffen ging.
»Irgendetwas müsst ihr gehört haben. Es wird darüber gesprochen, da bin ich mir sicher.« Zeller brauchte nur in ihre Gesichter zu sehen. Die beiden wussten mehr, als sie ihn glauben machen wollten.
»Geredet wird doch immer, Herr Kommissar«, fing Rainer mit verlegenem Grinsen an und zeigte dabei seine schwarzen Stummel im Mund. »Aber nichts, was Sie als Polizist interessieren könnte. Es gibt Dummschwätzer aller Art. Die einen sagen das, die anderen jenes. Warum soll ich Sie damit langweilen?«
»Auch wenn du denkst, es ist nichts von Wert, sag es mir besser trotzdem. Ich kann schon alleine entscheiden, ob es wichtig ist oder nicht«, versetzte Zeller. Er hatte genug von den Spielchen.
Michaela räusperte sich. Der Kommissar nickte ihr aufmunternd zu. »Na, ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen soll. Man will doch schließlich niemanden belasten.«
»Trau dich ruhig«, ließ Zeller sich vernehmen.
»Ich habe was gehört«, begann sie noch einmal und senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, »der schöne Ede bekam Besuch. Wie schon öfter. Der ist Wachmann im Turm. Seit ein paar Wochen erst, nachdem er von seinem ehemaligen Chef in Neufra rausgeschmissen worden ist. Wahrscheinlich wegen irgendwelcher krummen Dinger, munkelt man. Wenn er Nachtschicht hat, ist immer was los. Auch Weiber sind dabei.«
»Was für Weiber? Geht’s vielleicht ein bisschen verständlicher? Ist es eine Beziehungskiste, hat er eine Geliebte?«
»Eine Geliebte?« Michaela prustete los. »Das erlaubt der sich nie und nimmer. Der ist doch nicht lebensmüde. Da würde ihn seine Babbs so richtig fertigmachen. Ritsch, ratsch, ab wäre sein Schwanz. Aber so was von … Ohne Babbs kann der nicht existieren. Sie ohne ihn schon.«
»Was ist es dann?«, fragte Zeller weiter.
»Die treffen sich seit Neustem regelmäßig im Turm. Es sind mehrere. Immer wieder sind andere dabei. Der Hirsch ist dort, der Rechtsanwalt, den kennen Sie doch auch. Der ist oft bei Gericht. Dann noch einer von der Stadtverwaltung und einer vom Landratsamt. So genau weiß ich das auch nicht. Ich bin doch keine 20 mehr.« Michaela lachte ihr dreckiges Lachen so lange, bis sie einen Hustenanfall bekam und nach Luft schnappte. Instinktiv griff sie nach ihrer Zigarettenschachtel. Doch ehe sie eine davon herauszog, besann sie sich und verstaute die Schachtel wieder in ihrem billigen Gucci-Handtaschenplagiat.
Die Kellnerin brachte das bestellte Essen. Der Kreta-Teller war für Michi bestimmt, während Rainer einen auf Vegetarier machte und nur einen Bauernsalat vorgesetzt bekam. Ungefragt stellte die Bedienung drei Ouzos auf den Tisch. Rainer schob einen davon in Zellers Richtung. Der lehnte ab und stand auf, nickte den beiden