Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs. Marcel Rothmund
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Читать онлайн книгу Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs - Marcel Rothmund страница 6
»Glaube ich nicht. Jemand muss ihn mit etwas Hartem geschlagen haben, so wie er aussieht.«
Adam hatte die letzte Beere von seinem Traubenzweig abgezupft. »Aber warum kommt er dann zu uns? Warum läuft er mit dieser Verletzung so weit durch den Wald und nicht ins Dorf?«
»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte sie. »Vielleicht hat er jemanden gesucht? Oder er hat sich verlaufen? Was denkst du, wo er herkommt?«
»Na ja, es muss auf jeden Fall ein Fremder sein. Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Vielleicht ein Handwerksbursche, so wie er angezogen ist?«
»Aber er hat ja gar keine Sachen bei sich. Kein Bündel, nichts«, überlegte Elisabeth laut.
»Vielleicht hat er irgendwo im Wald sein Lager aufgeschlagen und die Sachen liegen immer noch dort?«
»Oder man hat ihn vertrieben?«, meinte sie. »Es ist jedenfalls sehr seltsam, findest du nicht?« Sie blickte ihm fragend in die Augen. In die Augen, in die sie sich vor Jahrzehnten so schnell verliebt hatte. Adams Gesicht war mittlerweile um Jahre gealtert, dennoch liebte sie ihn immer noch wie am ersten Tag. Bei seinem Anblick durchfuhr ein warmes Gefühl ihren Bauch. Zufrieden lächelte sie ihn an, obwohl das Gesprächsthema keinen Anlass dazu gab.
»Ja, seltsam ist es auf jeden Fall«, antwortete er. »Aber unser Gast wird uns sicherlich erzählen, wem er die Verletzung zu verdanken hat. Darauf bin ich jetzt schon gespannt, das kannst du mir glauben!«
Der Haldenhof
»Der alte Hund, der elende! Vorgestern hat er mir zugesagt und jetzt kommt er einfach nicht!« Es war Andreas Biehle, der auf dem Haldenhof wutentbrannt schimpfte. Seine Stimme entsprach seinem kräftigen Bau und seine Flüche ließen seinen feinen Oberlippenbart, dunkelblond wie seine Haare, erzittern. Neben ihm spannte der alte Knecht Vinzenz in aller Ruhe die Pferde vor den großen Heuwagen und ließ sich von seinem Fluchen nicht beirren. Die Miene unter dem abgetragenen Filzhut des Knechts blieb teilnahmslos. Sein Schweigen machte Andreas noch wütender, denn er brauchte jetzt jemanden, um seinen Ärger auszulassen, zumindest mit Worten. Der Bauer ging mit energischen Schritten ins Haus zu seiner Frau, um dort ausgiebig weiterzufluchen, seine Lederstiefel knirschten auf dem trockenen Boden des Hofs.
»Heilandsakrament noch mal!«, wütete er in der Küche. »Jetzt kann ich den Ernst schon wieder anbetteln, wenn der überhaupt Zeit hat!«
Johanna saß am Küchentisch und schälte Kartoffeln. Ihre weiße Bluse und ihr langer blauer Trägerrock spannten unter dem Bauch, der sich wegen der Schwangerschaft nach außen wölbte. Erschrocken schaute sie von der Arbeit auf und versuchte, ihn zu beruhigen.
»Andreas, bitte hör auf zu fluchen.«
»Ja, ist doch wahr!«, entgegnete er. »Auf den kann man sich einfach nie verlassen!«
»Wen meinst du denn?«
»Wen schon?!«, schnaubte er. »Den dürren Georg! Ich frag mich nur, wie mein Vater es mit ihm ausgehalten hat!«
»Nun ja, du weißt ja nicht, warum der Georg keine Zeit hat. Vielleicht muss er eine dringende Arbeit erledigen.«
Andreas wollte sich immer noch nicht recht beruhigen. »Aber er hat es mir versprochen! Soll er doch wenigstens vorbeikommen und sagen, dass er keine Zeit hat, dann kann ich jemanden anderen suchen!«
Wieder versuchte Johanna, ihn zu besänftigen. »Womöglich hatte der Georg keine Zeit, dir abzusagen. Bestimmt ist ihm etwas dazwischengekommen.«
Johannas Stimme wirkte tatsächlich beruhigend auf ihn. Er setzte sich zu ihr an den Tisch und redete in normalem Tonfall weiter. »Irgendwas wird es sein«, grummelte er. »Am besten ist es wahrscheinlich, wenn wir den Grund gar nicht kennen. Die Leute erzählen am Stammtisch genug komische Geschichten über ihn, das willst du gar nicht wissen. Es würde mich ja nicht wundern, wenn der einen auf dem Gewissen hat.«
»Andreas!«, fuhr Johanna ihn vorwurfsvoll an. »Hör bitte sofort damit auf! Ich habe schon genug Angst um die Mädchen, wenn er bei uns auf dem Hof ist!«
»Da musst du dir keine Sorgen machen«, erwiderte er. »Manche haben erzählt, dass er ab und zu Fremde auf seinem Schäferwagen mitgenommen hat. Scheinbar hat man die nie wieder gesehen, aber Kinder waren keine dabei.«
»Trotzdem will ich es nicht hören«, sagte Johanna. »Warum arbeitet er überhaupt bei uns auf dem Hof, wenn die Leute solche Schauergeschichten über ihn erzählen?«
»Weil er ein guter Arbeiter ist«, antwortete Andreas. »Und von uns hat er noch nie jemandem etwas zuleide getan.«
»Bei so einem unheimlichen Menschen kann man sich ja nie sicher sein«, hielt Johanna anklagend dagegen.
»Der wird uns nichts tun«, tat Andreas selbstsicher ab. »Dafür werde ich sorgen.« Er stand auf und begann erneut zu schimpfen. »Aber die nächste Zeit braucht der sich auf meinem Hof jedenfalls nicht blicken zu lassen! Und zum Vesper braucht er grad auch nicht mehr kommen! Der kriegt kein einziges Stückle Speck von mir, der elende Hund!«
Johanna sah ihn fragend an. »Und wer hilft euch jetzt auf dem Feld?«
Andreas schenkte sich aus dem steinernen Krug ein Glas Most ein. »In dem Fall bleibt wohl doch niemand anderes übrig als dein Bruder«, sagte er resigniert. »Aber der wird heut und morgen sowieso keine Zeit haben.«
Johanna zuckte mit den Schultern. »Fragen kannst du ihn ja«, meinte sie und schälte weiter Kartoffeln.
Andreas trank das Glas aus, zog sein blaues Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich die Nase. »Tja, wenn ich endlich einen Bub hätte! Dann könnte der mir jetzt wenigstens ein bisschen helfen.«
An Johannas traurigem Blick konnte Andreas erkennen, dass sie seine Bemerkung als Vorwurf auffasste. Sie schluckte und grübelte nach einer Lösung. »Ludovica kann doch ins Dorf fahren und den alten Stumpfer fragen?«, schlug sie vor. »Der hilft auch auf den anderen Höfen.«
Abgeneigt verzog Andreas das Gesicht. »Der Stumpfer?! Der ist ja noch viel älter als unser Vinzenz!«
»Ja, aber ihr braucht doch jemanden, der euch zweien hilft.«
Andreas schwieg für einen Moment. Es kostete ihn jedes Mal Überwindung, Johannas Bruder Ernst zu fragen, weil dieser immer alles besser wusste. Da wäre es wohl das kleinere Übel, den alten Stumpfer zu fragen, dachte er sich. Als er nach einer Weile immer noch nicht antwortete, schaute Johanna von ihren Händen auf und blickte ihn mit ihrem gutmütigen Lächeln an. Ihre feinen Züge waren so sanft und unter dem dunkelblauen Kopftuch spitzelte ihr braunes Haar hervor. Bei diesem Anblick konnte er nicht anders und stimmte ihrem Vorschlag zu. »Von mir aus. Aber dann soll Mutter den alten Stumpfer am besten gleich holen!« Mit diesen Worten ging er hinaus, zog die Küchentür hinter sich zu und rief draußen nach Ludovica. Eine Stunde später kehrte diese mit dem Fuhrwerk auf den Haldenhof zurück, auf der Sitzbank neben ihr saß Gottfried Stumpfer.
Eigentlich hätte Andreas mit seinem bisherigen Leben mehr als zufrieden sein können. Er war zweiunddreißig Jahre alt und stolzer Bauer des Haldenhofes. Sein Vater war früh verstorben und Andreas einige Jahre später als dessen ältester Sohn Hoferbe geworden. In Ernatsreute und den umliegenden Dörfern genoss er dadurch hohes Ansehen. Der Haldenhof