Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs. Marcel Rothmund

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Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs - Marcel Rothmund

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jünger gewesen waren, war Adam jeden Morgen um halb sechs von selbst aufgewacht – darauf war Verlass gewesen. Doch mittlerweile schien seine innere Uhr in die Jahre gekommen zu sein, weshalb sie manchmal erst um sieben aufstanden. So war es auch an diesem Tag, denn die Krankenversorgung des Patienten gestern Abend hatte beide länger als sonst wach gehalten. Während Adam sich anzog, weckte er Elisabeth und ging nach unten in die Küche. Dort nahm er die rote Emaille-Schüssel vom Regal und lief hinter das Haus an den Brunnen, um frisches Wasser zu holen. Er überlegte oft, wie alt der Brunnen wohl sein mochte. Der runde Brunnenschacht maß im Durchmesser fast eineinhalb Meter und war aus großen Wacken gemauert. Ein kleines Dach überdeckte seine Öffnung, unter dem eine Kurbelstange mit Seil und Holzeimer hing. Adam drehte an der seitlichen Kurbel und ließ den Eimer am Seil nach unten. Dort sammelte sich das Grundwasser, das er und Elisabeth jeden Tag brauchten. Vor Jahren hatte er die Tiefe des Brunnens nachgemessen und errechnete bis zum Grund fast sieben Meter. In diesen Erinnerungen zog er den gefüllten Eimer wieder nach oben. Das frische Wasser füllte er in die Schüssel und ging zurück in die Küche. Am Schüttstein nahm er beide Hände voll Wasser und rieb sich damit das Gesicht ab. Das Wasser aus dem Brunnen war kalt, doch Adam war es recht so, denn das kalte Wasser trieb ihm den Schlaf aus dem Gesicht. Als Nächstes nahm er ein Stück Kernseife zur Hand und seifte sein Gesicht ein. Danach rieb er mit den Fingern durch den Mund und über seine Zähne. Zum Schluss der Morgenwäsche hielt er sein Gesicht über die Schüssel und spülte alles kräftig ab. Inzwischen war Elisabeth angekleidet nach unten gekommen. Während er seine Morgenwäsche beendete, schaute sie in die Stube zu Kilian. Adam leerte die Schüssel und füllte frisches Wasser nach. Im Gegensatz zu ihm war Elisabeth das Wasser aus dem Brunnen am frühen Morgen zu kalt. Bevor sie ihre Morgenwäsche vornahm, musste das Wasser aufgewärmt werden. Dazu machte Adam Feuer im gusseisernen Herd und füllte einen Teil des Wassers in das Schiffchen auf der Herdplatte. Das warme Wasser würde Elisabeth später zum kalten in der Schüssel mischen, bis es ihr warm genug war. Als sie in die Küche kam, begann das Wasser im Schiffchen langsam zu dampfen. Adam saß am Tisch und schnitt sich eine Scheibe Brot ab.

      »Wie geht es ihm?«, fragte er.

      »Auf jeden Fall besser als gestern Abend«, antwortete Elisabeth. »Ich werde ihm erst einmal einen Tee machen, damit er wieder etwas trinkt. Und vielleicht isst er ja auch einen Brocken Brot.«

      Elisabeth ging zum Regal und nahm einen kleinen Tonbehälter mit ihrer Apfelschalen-Teemischung herunter. Während sie den Tee für Kilian anrichtete, sprach sie weiter. »Gehst du jetzt gleich auf die Suche in den Wald?«

      Adam schnitt sich zwei weitere Scheiben Brot ab und schmierte von Elisabeths Brombeermarmelade auf eine Scheibe. Auf die andere Brotscheibe gab er eine Portion Schmalz, streute Salz darüber und klappte die dritte Scheibe als Deckel darauf. Das Marmeladenbrot aß er sofort, das Schmalzbrot war sein Proviant für unterwegs.

      »Ja, ich werde sicher den ganzen Vormittag unterwegs sein, bis ich eine gefunden habe«, antwortete er. »Aber ich kenne ein paar Stellen im hinteren Aachtobel, wo Kreuzspinnen hausen. Sie hocken in den Nischen der Felswände und spannen dort ihre Netze. Wenn ich nicht gleich auf Anhieb eine finde, muss ich sie eben anlocken. Brauchst du sie lebend oder wird sie sowieso verbrannt?«

      »Nein, auf jeden Fall lebend!«, wandte Elisabeth ein.

      »Aha, dann hat der Bursche also das Vergnügen, das kleine Vieh lebendig zu fressen. Dann gib ihm aber auch ordentlich Salz und Pfeffer dazu.« Er machte gern solche trockenen Bemerkungen und wusste, dass Elisabeth diesen Humor an ihm liebte. Schmunzelnd sah sie ihn an.

      »Ach was, du Eselpeter! Die Spinne kommt lebendig in eine Nussschale, die er als Amulett um den Hals tragen muss, bis das Fieber endgültig verflogen ist.«

      »Na, die wird aber ihre Freude haben, wenn sie ihre große Felsspalte gegen eine winzige Nussschale tauschen muss.«

      »So steht es eben im Buch«, entgegnete Elisabeth. »Und solange es ihm hilft, soll es mir recht sein.«

      Inzwischen war Adam fertig mit essen und stand vom Tisch auf.

      »Mir auch. Dann geh ich jetzt auf die Jagd und suche nach einem prächtigen Exemplar für unseren Stubenburschen.«

      »Willst du ein paar Trauben mitnehmen?«, fragte Elisabeth.

      Adam nickte. In der Tenne standen die Körbe mit den Weintrauben, die Elisabeth gestern geerntet hatte. Sie ging kurz hinüber und kam gleich darauf mit vier großen Traubendolden zurück. Adam zog währenddessen seine Waldjacke an und packte sein Bündel. Elisabeth nahm ein kleines Tuch aus der Küchentischschublade, legte die Dolden darauf und band das Tuch zu einem Proviantbündel zusammen. Dann sah sie Adam verwundert an.

      »Wo hast du dein Schmalzbrot?«

      Wortlos deutete Adam auf das hellbraune Leinenbündel auf seiner Schulter.

      »Hast du das Brot etwa ohne etwas drum herum eingepackt?«, fragte sie entsetzt.

      »Ha ja, das macht doch nichts. Ich esse es nachher ja sowieso.«

      »Adam! Ich will nicht wissen, wie viele tote Viecher du schon in diesem Beutel nach Hause getragen hast. Und jetzt packst du einfach dein Brot da rein? Gib mir deinen Proviant, dann lege ich ihn in ein Tuch.«

      Elisabeths Blick war weniger vorwurfsvoll, sondern eher fürsorglich. Adam hätte es nicht weiter gestört, doch damit Elisabeth zufrieden war, nahm er das Leinenbündel von seiner Schulter und ließ sie das Brot zusammen mit den Weintrauben einpacken. Das fertige Bündel drückte sie ihm in die Hand.

      »Schaust du auch bei den Fledermäusen nach?«, fragte sie.

      »Ja, die Holzkästen wollte ich mir heute anschauen. Und was machst du heute Morgen?«

      »Ich werde unserem Patienten zuerst etwas zu essen machen. Danach will ich der Hedwig, der Villinger Sofie und den Biehles ein paar Weintrauben vorbeibringen. Die Biehle-Mädchen essen die Trauben so gern und ich wollte schon seit ein paar Tagen bei Johanna vorbeischauen.«

      »Wann wird sie denn das Kind zur Welt bringen?«

      »Etwa zwei Monate müssten es noch sein«, schätzte Elisabeth.

      »Na, dann hoffen wir, dass es ein Bub wird. Sonst hängt sich der Andreas am Ende noch auf.«

      Elisabeth blickte ihn schockiert an.

      »Adam! Sag kein dummes Zeug! Der arme Andreas leidet so schon genug, weil er immer noch keinen Hoferben hat!«

      »Jaja«, grummelte er vor sich hin. »Es würde mich jedenfalls nicht wundern, bei so vielen Weibern auf dem Hof, wie der arme Kerl hat.«

      Adam packte sein Bündel und machte sich auf den Weg. Etwa eine halbe Stunde später war er zu Fuß im hinteren Aachtobel an der Stelle angelangt, wo sich der Fußweg an die Felswand schmiegte und weiter in Richtung Norden führte. Unten am Gewässer hörte er das feine Zwitschern von Bachstelzen, die in den Sträuchern um das kleine Bächlein umherhüpften. Am Wegesrand brummten Hummeln über den roten Blüten der Taubnesseln und dazwischen trällerte ein Buchfink hoch oben in einer Baumkrone. Der felsige Erdboden war hier wie im ganzen Linzgau aus sandigem Molassegestein. Über die Jahrtausende hinweg hatten sich in die Felswand vom Sickerwasser tiefe Spalten gegraben. In der feuchten Dunkelheit dieser Spalten hausten neben Asseln, Würmern und Kriechtieren auch Kreuzspinnen. Während einer seiner vielen Waldgänge hatte Adam sie hier vor nicht allzu langer Zeit entdeckt. Als Elisabeth ihn gestern Abend im Bett darum gebeten hatte, eine Kreuzspinne zu fangen, war ihm diese Stelle wieder ins Gedächtnis gekommen. Als er dort ankam, legte er sein

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