Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs. Marcel Rothmund
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Читать онлайн книгу Das Vermächtnis des Konstanzer Kräuterbuchs - Marcel Rothmund страница 12
Kilian zögerte kurz, aber sie hatte recht, dachte er sich. Ein paar Löffel könnte er ja probieren. Schließlich hatte er lange nichts gegessen, und jetzt, wo er genauer darüber nachdachte, spürte er, wie sich sein Magen vor Hunger krümmte. »Ja, eine Suppe würde ich doch essen.«
»Dann mache ich dir eine gebrannte Grießsuppe. Meine Mutter hat uns die früher immer gekocht, wenn wir krank waren. Magst du die?«
»Die schmeckt sicher wunderbar«, antwortete er mit einem Lächeln. »Danke, Elisabeth.«
»Ist schon recht. Ich koche am besten eine große Portion, dann haben Adam und ich heute Abend auch etwas davon«, entschied sie und ging in die Küche.
Die Suppe war kurze Zeit später fertig und Elisabeth brachte einen Teller davon in die Stube. Zum Essen setzte Kilian sich an den Tisch. Während er den Teller auslöffelte, schüttelte Elisabeth die Zudecke aus und schlug ihm sein Krankenlager frisch auf. Als Kilian fertig war, legte er sich wieder hin und deckte sich zu. Das Essen war gut, aber es machte ihn schläfrig. Elisabeth nahm den leeren Suppenteller und wandte sich vor dem Hinausgehen nochmals an ihn.
»Ich gehe nachher ins Dorf zu Bekannten und komme erst am späten Nachmittag zurück. Doch Adam müsste bald da sein, falls etwas ist.«
»In Ordnung«, antwortete er und schloss seine müden Augen.
Das Dorf
Die Traubenernte auf dem Vrenenhof war in diesem Herbst so gut ausgefallen, dass Elisabeth die Weintrauben nicht nur für ihren eigenen Gebrauch verwertete, sondern einen Teil davon an andere verschenken wollte. Dazu füllte sie drei Körbe für ihre Bekannten. Danach holte sie Pankraz von der Weide, legte ihm das Brustgeschirr an und spannte ihn vor den Einspänner. Die Körbe lud sie hinten auf den Wagen und machte sich zuerst auf den Weg zu ihrer Freundin Hedwig. Hedwig Lattner und ihr Mann Theodor wohnten im Forsthaus bei Ernatsreute, das außerhalb des Dorfes in der Nähe vom Fronholz lag. Der Weg dorthin führte in einem Bogen durch das Dorf. Vom Vrenenhof fuhr Elisabeth aus dem Wald heraus auf die Landstraße unterhalb des Haldenhofs und bog nach links in den Ort ein. Am Dorfeingang auf der rechten Seite lag als erster Hof das sogenannte »Widemgut«, das früher der Deutschordenskommende Mainau unterstanden hatte. Danach folgte der große Schulthaißhof, dessen Bauer mit einem Fuhrwerk die Straße kreuzte und sie freundlich grüßte. Der ehemalige Lehenshof der Überlinger Patrizierfamilie Schulthaiß beherbergte zusätzlich zur Landwirtschaft das Gasthaus »Adler«. Nach einem Seitensträßchen reihte sich an der Dorfstraße als Nächstes der kleine Hof der Schädlers an. Das große Pfaffenhofener Gut war auf dieser Straßenseite der letzte Hof am Ortsausgang. Von dort verlief die Dorfstraße weiter nach Owingen. Zwischen Schädlers und dem Pfaffenhofener Gut führte ein Feldweg den Hang hinauf zum Hebsackhof. Kinder spielten Fangen auf den Höfen und winkten Elisabeth fröhlich zu. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Ortsausgang stand das Tagelöhnerhaus des alten Gottfried Stumpfer, das wiederum durch eine Seitenstraße von der Kapelle und dem daran anliegenden Haus der Villingers getrennt wurde. Elisabeth bog nach der Kapelle in die Seitenstraße ein und fuhr weiter in Richtung Forsthaus. Die Kapelle auf einer kleinen Anhöhe in der Dorfmitte gehörte zur Pfarrei Lippertsreute und war dem heiligen Antonius geweiht. Über ihrem Eingangsportal hing unter einem schmalen Dachreiter die Kapellenglocke, die morgens, mittags und abends von den Villingers geläutet wurde. Die Familie übernahm seit drei Generationen den Mesmerdienst der Kapelle. Die Ausschmückung im Inneren war recht schlicht, wie Elisabeth früher bei einem Besuch mit Sofie Villinger festgestellt hatte. Die Wände waren nur weiß gekalkt und die Fenster waren von spärlichen Ornamenten umrandet. Überhaupt war die Kapelle in einem schlechten Zustand. Allein der Altar war eine kleine Kostbarkeit, denn es war ein aufklappbarer Flügelaltar. Geschlossen zeigte er den heiligen Leonhard, den Viehpatron mit seiner Kette, und die heilige Margareta mit dem Drachen. Als Sofie die Seitenflügel aufgeklappt hatte, konnte Elisabeth die geschnitzten Holzfiguren der Madonna mit Kind, des heiligen Johannes und der heiligen Barbara bestaunen. Die Innenflügel schmückten zudem Darstellungen des heiligen Laurentius und des heiligen Antonius als Patron der Kapelle. Pfarrer Wasmer kam nur ab und zu nach Ernatsreute, um in der Kapelle die Messe zu lesen, hatte Sofie ihr erzählt. Jeden Montagabend beteten die Frauen vom Dorf unter Anleitung des Mesmers einen Rosenkranz. Ansonsten mussten die Dorfbewohner nach Lippertsreute in die Kirche gehen, dort wurden die Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen der Pfarrei abgehalten.
Nach der Kapelle passierte Elisabeth als letztes großes Hofgut von Ernatsreute den ehemaligen Lehenshof des Heilig-Geist-Spitals von Überlingen und fuhr weiter bis zum Forsthaus. Als die Waldungen Fronholz und Eichholz zwischen Ernatsreute und Bambergen vor hundert Jahren vom damaligen Grundbesitzer, der Johanniterkommende von Überlingen, an das Großherzogtum Baden übergegangen waren, ließ das Adelshaus am Rande von Ernatsreute wenige Jahre später ein Forsthaus errichten. Theodor Lattner war als Bezirksförster seit über dreißig Jahren im Dienste des Großherzogs Friedrich von Baden in den Wäldern tätig und lebte zusammen mit seiner Frau Hedwig in dem Bau. Das alte Forsthaus war im Untergeschoss aus Sandstein und im Obergeschoss aus Fachwerk mit schwarz bemalten Balken und einem Walmdach gebaut. Zum Forsthaus gehörte ein Speichergebäude mit Stall, das neben dem Haus stand. Dahinter lag ein großer Weiher, der ursprünglich eine kleine Kiesgrube gewesen und über die Jahrzehnte mit dem Wasser des Geißbachs vollgelaufen war. Im Weiher lebten Enten und Forellen, die Theodor nebenher züchtete, und vor dem Speicher lag Hedwigs großer Gemüsegarten. Elisabeth brachte Pankraz im Hof des Forsthauses zum Stehen. Hedwig arbeitete im Garten und hatte ihre Freundin mit dem Einspänner wohl schon von Weitem auf dem Weg herfahren sehen. Freudig lief sie Elisabeth entgegen. Hedwig war nur ein paar Jahre jünger als sie. Sie trug eine graue Kittelschürze und auf dem Kopf ein rotes Tuch.
»Ja, Liesl, sieht man dich auch mal wieder«, begrüßte Hedwig sie. »Schön, dass du zu uns kommst.«
»Grüß Gott, Hedwig. Ich wollte schon lange einmal wieder bei euch vorbeischauen. Ich habe euch einen Korb von meiner Ernte mitgebracht.«
Elisabeth stieg vom Wagen und gab Hedwig einen der drei Körbe mit Trauben, die sie auf der Fahrt unter einem großen Leinentuch schützte.
»Ich habe so viele Weintrauben dieses Jahr geerntet, ich könnte ganz Ernatsreute damit versorgen. Da habe ich gedacht, ich bringe dir und Theo einen Korb voll mit, dann kann ich bei dieser Gelegenheit fragen, wie es euch geht.«
»Das ist aber nett.« Hedwig lächelte freudig. »Der Theo ist seit dem Mittagessen im Wald oberhalb von Bambergen unterwegs. Im Frühjahr hat er dort einen neuen Bestand Fichten anpflanzen lassen. Etwa drei Hektar sind es, doch der Wildschaden ist dieses Jahr so groß, dass über die Hälfte neu gepflanzt werden muss. Das hält ihn seit Wochen auf Trab.«
»Oh je, der Arme!«, seufzte Elisabeth.
»Jaja, so ist es mit den Mannsbildern eben«, sagte Hedwig flapsig. »Immer haben sie etwas zu tun und meistens sind sie fort.«
Die beiden lachten und Hedwig nahm Elisabeth am Arm.
»Aber komm mit. Wir setzen uns am Weiher auf das Bänkchen und gönnen uns eine kurze Pause.«
Elisabeth nickte und die beiden liefen zum Weiher hinüber. Unter einem großen Birnbaum stand dort eine Holzbank im Schatten und die beiden setzten sich.
»Hier kann uns niemand sehen, wenn wir ein Päuschen machen, gell«, bemerkte Hedwig und schmunzelte.
»So schön habt ihr es hier.« Elisabeth schaute auf den großen Weiher, der auf der anderen Seite von hohem Schilf umrandet war. Am vorderen Ufer, nur ein paar Schritte von der Bank entfernt, war ein Holzsteg, vor dem sich ein paar Enten tummelten. Auf der Wiese um den Weiher herum standen