Nacht im Kopf. Christoph Heiden
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Er umklammerte die Bettkante und starrte gegen die Wand. Auch wenn die Tapete schief angebracht war oder der Lack auf den Fensterrahmen nicht richtig deckte, hatte die Schlafstube den Neuanfang unterstreichen sollen. Er hatte sich ernsthaft bemüht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hatte Ordnung schaffen wollen, so wie es Eva sich von ihm gewünscht und erwartet hätte. Mit erstarkter Lebensfreude hatte er sämtliche Schränke und Kommoden ausgemistet, hatte längst vergessene Schubladen geöffnet und deren Inhalt nach Ramsch und Kostbarkeiten sortiert. Gestern war er dabei auf das verdammte Buch gestoßen.
Das Öffnen der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
»Willy«, sagte Anna, »alles in Ordnung?«
Er hörte sie eintreten und erstarrte am ganzen Körper. Sie schloss von innen die Tür, hielt aber respektvollen Abstand zu ihm.
»Sollen wir wieder fahren?«
Das Ja wollte ihm bereits von der Zunge springen. Dann ereilte ihm die Erinnerung, wie Anna und er in seinem Opel unterwegs gewesen waren; er hatte ihr geholfen und sie hatte ihm geholfen, damals auf der Jagd nach dem Mörder ihrer leiblichen Eltern. Mit dieser Erinnerung verschaffte sich eine Idee Gehör, die er am Morgen ersonnen, doch rasch wieder verworfen hatte.
»Hast du Zeit?«, fragte er.
»Ja, klar«, antwortete sie.
»Wirklich?«
»Warum denn nicht?«
Er zeigte auf die Stelle, an der früher das Puzzle gehangen hatte, und räusperte sich affektiert. »Das ist ein Geschenk für Eva gewesen«, sagte er. »Da war sie schon krank, sehr, sehr krank. Bevor sie gegangen ist, hat sie es noch fertig gepuzzelt. Ich hab’s letzten Monat in die Wohnstube gehangen, damit’s nicht die ganze Zeit im Dunkeln hängt.«
»Das hätte sie bestimmt gefreut.«
»Da verwette ich meine Socken drauf.« Er lachte. »Sie hat immer behauptet, ich hätte kein Händchen fürs Schöne. Ich sei mehr der Mann fürs Grobe. Sozusagen ein Grobian. Na ja, wenn sie jetzt das Haus sehen könnte, würde sie sich ziemlich wundern.«
»Und warum hast du das Puzzle kaputt geschlagen?«
»Weil sie ’ne Hexe gewesen ist. So einfach.«
Er schaute beharrlich in eine andere Richtung, wollte nicht, dass Anna merkte, wie er seine Aggression zu unterdrücken versuchte. Die schief angebrachte Tapete, der schludrig aufgetragene Fensterlack – das alles dämpfte seine Wut nicht mehr. Augenscheinlich hatte er allein nichts auf die Reihe bekommen. Mit dieser Erkenntnis wurde ihm Annas Besuch ein Zeichen, eine Fügung des Schicksals. Mit ihrer Hilfe würde er seinen Plan verwirklichen. Nun spürte er ihre Gegenwart ganz deutlich im Rücken. Ja, Anna war hierhergekommen, um ihm zu helfen.
»Lass uns nach Kuxwinkel fahren.«
»Kuxwinkel? Wo soll das sein?«
»Ein paar Kilometer Richtung Osten.«
»Hab ich noch nie von gehört.«
»Musst du auch nicht. Ist ein Fliegenschiss.«
»Und was willst du da?«
»Dem Lehrer einen Besuch abstatten.«
Anna setzte sich neben ihn und ihre Miene strotzte vor Unverständnis. »Welchem Lehrer denn?«
»Na, dem Schwein, das Eva gevögelt hat.«
9.55 Uhr
»Papa hat gesagt, dass es jetzt aufwärts geht.«
»Wie aufwärts?«
»Bald sind wir reich.«
»Habt ihr im Lotto gewonnen?«
Anstatt mit Liane den Trampelpfad zu benutzen, streifte Jimmy durchs Gras, als sei er direkt einem Ego-Shooter entsprungen. Er stoppte und linste über die Halme hinweg: »Ich meine wegen der Fabrik.«
»Hat dein Daddy etwa Aktien gekauft?«
»Der will dort arbeiten.«
»Pförtner werden nicht reich.«
»Mein Papa ist Automechaniker, also.«
Liane Pfabe, die nicht nur zwei Klassen über Jimmy war, sondern ihm auch auf den Kopf hätte spucken können, teilte seinen Enthusiasmus nicht im Mindesten. »Die Fabrik steht doch erst in hundert Jahren.«
»Nein«, protestierte er, »nächstes Jahr schon.«
»Hast du ’ne Peilung, was für ’n Palast das wird?«
»Klar, so groß wie Ikea.«
»Ikea ist mini dagegen.«
Jimmy stoppte und seine riesigen Augen wurden hinter den Brillengläsern noch größer. Liane knickte die Arme ein, verschränkte die Hände hinter den Brustlatz ihrer Jeans und erinnerte ihn daran, dass am Flughafen Berlin Brandenburg seit 2006 gebaut wurde.
»Ja und?«
»Da warst du nicht mal geboren.«
»Aber du, oder wie?«
»Ich war immerhin ein süßes Baby.«
Während Jimmy Kotzlaute imitierte, entfaltete sich in Lianes Gedanken eine Urkunde, die sie im Schrank ihrer Mutter entdeckt hatte. Das kleinformatige Papier trug die Aufschrift: Erik Beimer. 1. Platz im 100-Meter-Lauf. Sportfest des Dunker-Gymnasiums. Liane kannte weder einen Erik Beimer noch hatte sie ihre Mutter jemals von einer Person dieses Namens reden gehört. Eine innere Stimme flüsterte ihr, dass es sich bei dem Gewinner um ihren Erzeuger handelte, einen Mann, den sie nie hatte kennenlernen dürfen. Ihr leuchtete kein anderer Grund ein, weshalb ihre Mutter die Urkunde sonst hätte aufheben sollen. Als Liane sich später das Dokument noch mal hatte ansehen wollen, war es verschwunden gewesen. Bis heute hatte sie ihre Mutter nicht darauf angesprochen; die Angst, nicht die Urkunde, sondern ihre Schnüffelei würde zum Thema des Gesprächs werden, ließ sie schweigen.
»Mein Papa hat trotzdem recht«, fuhr Jimmy in ihre Gedanken. »Nächstes Jahr sind die fertig.«
»Klingt ziemlich naiv«, entgegnete Liane.
»Ich hab neulich in Mathe ’ne Eins gehabt.«
»Und kannst du deswegen hellsehen?«
»Frau Petzold meinte, ich bin der Beste.«
»Dann heiratet doch.«
Jimmy gab von Neuem Kotzlaute von sich. Liane und er hatten trotz unterschiedlicher Klassenstufen dieselbe Mathelehrerin, und wer Frau Petzold kannte, würde den Gedanken an eine Heirat immer mit einem