Nacht im Kopf. Christoph Heiden

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Nacht im Kopf - Christoph Heiden

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jedoch, dass es bei seiner Mutter den Argwohn zerstreuen würde.

      »Willst du mich veräppeln?«

      »Nein, will ich nicht.«

      »Ich rufe bei Lianes Mutter an.«

      Ja, das würde seine Mutter fertigbringen. Er biss von seinem Toast ab und grübelte, wie er wieder an sein Smartphone kommen könnte. Da öffnete sich die Tür und sein Vater stapfte herein. Er hatte die Arbeitsschuhe draußen abgestreift – Mutter hasste es, wenn er in dreckigen Botten das Haus betrat –, wuschelte im Vorbeigehen Jimmys Haar und zog schließlich die Kanne aus der Kaffeemaschine.

      »Und? Kommst du voran?«, erkundigte sich seine Mutter.

      »Geht so«, antwortete sein Vater.

      »Jimmy hilft dir bestimmt.«

      Sein Vater lehnte an der Anrichte und wischte mit dem Daumen über sein eigenes Smartphone. Fußball – das interessierte Jimmy kaum, es sei denn, es ging um die Millionenbeträge, die ein Spieler bei einem Vereinswechsel kostete.

      Nachdem weder sein Vater noch er auf die Bemerkung seiner Mutter angesprungen waren, sagte sie:

      »Und, Jimmy? Ein bisschen mit anpacken?«

      »Papa baut den ganzen Tag.« Er blickte zu seinem Vater auf. »Oder?«

      Sein Vater stierte auf sein Smartphone und zeigte keinerlei Reaktion.

      »Zocken bei Liane fällt jedenfalls aus«, bekräftigte seine Mutter. »Hast du mich verstanden?«

      »Ja klar«, sagte Jimmy besonders laut. »Wir wollen eh durch die Gegend streifen.«

      9.35 Uhr

      Willy hatte drei Tassen auf den Küchentisch gestellt, dazu eine Kanne Kaffee und ein Päckchen Milch. Er stemmte einen Arm gegen die Tischkante und neigte sich zurück, sodass die Stuhllehne knarzte. Unter seiner Weste raste noch immer sein Herz, und wenn Anna und Anhang ihn nicht überrascht hätten, wäre er vollends explodiert – zumindest glaubte er das.

      »Und?«, fragte sie ihn.

      »Was und?«

      »Na, was ist da eben passiert?«

      »Kleine Entrümpelung«, sagte er und nippte an seinem Kaffee. »Willst du uns nicht bekannt machen?«

      Anna zeigte auf den Mann. »Das ist Mike.« Sie richtete den Finger auf ihn. »Und das ist Willy.«

      Darauf erhob sich der Fremde, streckte ihm die offene Hand entgegen, und sein Gesicht offenbarte ein Lächeln, das er vorhin garantiert nicht zustande gebracht hätte. Nachdem das Puzzle auf den Boden geschlagen war, hatte Willy den Rahmen zwischen Fuß und Scheuerleiste fixiert und ihn so lange mit der Axt bearbeitet, bis das Holz splitterte; dann hatte er die Rückwand herausgetreten und die Meereslandschaft eigenhändig zerrissen. Einer der Fetzen war durch die Stube gesaust, genau dorthin, wo zwei Besucher ihn fassungslos anstarrten.

      Willy schenkte ihm ein Nicken; mehr war nicht drin, was dieser Mike sofort zu begreifen schien. Er sank zurück auf den Stuhl, ohne sein Lächeln abzustellen.

      »Ich nehm mal an«, sagte Willy, »Sie sind Annas Neuer.«

      »Wohl mehr gebraucht als neu.«

      »Ah, gebraucht und witzig?«

      »Willy, was soll das?«, entgegnete Anna.

      »Braucht dein Neuer etwa ’ne Beschützerin?«

      Mike hob die Brauen, bevor er den Blick, anscheinend peinlich berührt, zur Seite wandte. Willy musterte ihn ohne jede Scheu, von seinem zugeknöpften Hemd über das weiche Kinn hinauf zu seinem Stirnband. Der Fremde musterte wiederum die Küche. Seines Erachtens war es ein abschätziger Blick, gerade so, als sitze er in der Bruchbude eines Hinterwäldlers; dabei hatte Willy erst vor Kurzem das Spülbecken geputzt, den Grünspan vom Wasserhahn entfernt und das rostige Herdgitter gegen ein neues ausgetauscht; selbst die Gardinen waren gewaschen und die Fenster geputzt. Gewiss würde dieser Mike das alles übersehen, mit voller Absicht natürlich.

      »Schick hast du alles gemacht«, sagte Anna.

      »Danke«, knirschte er. »Bekomm ich jetzt ’nen Preis?«

      »Ich meine das ehrlich. Es gefällt mir.«

      »Ihre Plattensammlung ist auch nicht ohne«, sagte Mike und Willy rang sich ein zweites »Danke« ab.

      Er beobachtete, wie der Mann mit einer beiläufigen Zärtlichkeit über Annas Handrücken strich, gleichzeitig machte sich in seiner Kehle ein schwaches Sodbrennen bemerkbar. Obwohl er wusste, dass er jetzt auf Kaffee verzichten sollte, schenkte er sich nach.

      »Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Anna.

      »Ja, alles bestens.«

      »Und was sollte das nun?«

      Er rieb sich den Bauch und linste zur Anrichte. Das Röhrchen mit dem Magnesium war leer; die letzten Tabletten hatte er eingeworfen, nachdem sein Magen auf den ersten Wutanfall reagiert hatte. Das war gestern gewesen, irgendwann gegen acht. Er glaubte, aus Mikes Blick ein tiefes Bedauern zu lesen, doch war Mitleid das Letzte, was er von diesem Typen haben mochte. Er rutschte vor und erkundigte sich bei Anna, weshalb sie hier sei.

      »Wann bist du zuletzt in Gollwitz gewesen?«, fragte sie zurück.

      »Keine Ahnung. Ist lange her.«

      »Und deine Kneipenbesuche?«

      »Da kriegen mich keine zehn Pferde rein.«

      »Immer noch Ärger mit den Nachbarn?«

      »Ich und Gollwitz, das passt einfach nicht.«

      Er hakte nach, was sie dort wolle, und schickte hinterher, sie solle ihm nicht ausweichen. Er sei zwar alt, aber nicht senil.

      »Das ist eine lange Geschichte«, entgegnete Anna.

      »Willst du deine Familie besuchen?«

      Anna verzog keine Miene.

      »Das Gutshaus läuft bestimmt gut.«

      Ihm fielen ihre unterschiedlich großen Augen auf, das linke viel kleiner als das rechte. Das war die Anna Majakowski, die er kannte, die vor dreieinhalb Jahren in Gollwitz aufgetaucht war, allein, verunsichert und mit einem Rucksack voller Fragen. Damals hatte er sie auf dem Friedhof abgefangen und sie war nicht in sein Haus eingedrungen. Unangekündigt und mit einem Fremden im Schlepptau. Er spürte das Brennen in seiner Kehle, blickte automatisch zur Anrichte, wo nur das leere Röhrchen lag, und atmete schwer aus. Als er Anna erneut nach dem Anlass ihres Besuchs fragen wollte, sah er, dass die Frau von damals verschwunden war. Mike strich ihr über das Knie, eine geradezu einfühlsame Geste, die Willy sogleich zu deuten wusste: Mir tut der alte Mann ebenso leid. Schade um ihn. War vielleicht mal ein kompetenter Bursche.

      »Ich hab euch nicht eingeladen«, sagte er grob, erhob sich und schlurfte aus der Küche, ehe ihn eine andere Regung übermannen konnte.

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