Nacht im Kopf. Christoph Heiden

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Nacht im Kopf - Christoph Heiden

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betreibe man den ganzen Aufwand, seinetwegen mache sie sich extra schick. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er seinen Geburtstag lieber vor dem Fernseher verbracht oder auf dem Dachboden zwischen seinen Büchern und Zeitschriften.

      »Augen zu«, sagte Lotte vor Lewins Kneipe.

      Verstohlen linste Jannes auf die andere Straßenseite. In dem Haus schräg gegenüber wohnte Pawel Mitschek. Mit Sicherheit hockte er hinter der Gardine und beobachtete ihn und seine Frau; zweifellos war er einer der wenigen, die man wohl nicht zur Feier eingeladen hatte. Obwohl er diesen Mitschek kaum kannte, war ihm das Theater mit seiner Frau peinlich.

      »Lotte«, protestierte Jannes. »Ich will nicht.«

      »Komm, stell dich nicht so an.«

      »Ich weiß doch längst Bescheid.«

      »Umso besser. Dann kannst du nichts vermasseln.«

      Durch die Eingangstür drangen Stimmen und das Gewummer lauter Musik. Garantiert lauerte jemand am Fenster, damit seine Ankunft nicht unbemerkt blieb. Um den Hergang der nächsten Minuten zu erahnen, musste Jannes ebenso wenig Hellsehen können: Er würde mit geschlossenen Augen die Kneipe betreten und aus den Boxen würden irgendwelche Geburtstagslieder dröhnen; die Meute würde mitsingen, lautstark, schief und angetrunken.

      Lotte stellte sich hinter ihn, schirmte ihm beide Augen ab, und er dachte an seine stille Dachkammer. Sie probierte, ihm die Augen zuzuhalten und gleichzeitig die Klinke zu drücken, bis sie schließlich aufgab und ihm sagte, er solle selbst die Tür öffnen.

      »Tut mir leid, ich seh nichts.«

      »Stell dich nicht so an.«

      »Zu Befehl«, seufzte Jannes und ertastete blind die Klinke.

      Nachdem sie gemeinsam über die Schwelle getippelt waren, er voran, Lotte hinterher, verblasste sein Widerwillen unter dem Gefühl, geradewegs in eine große Peinlichkeit zu schlittern. Im Dunkeln unter Lottes Händen erschienen ihm die Bilder abendlicher TV-Shows: Ein Mann beichtet einer Frau seine Liebe vor laufender Kamera, dazu schmalzige Musik und ein Korb voller Rosen. Oder eine Szene aus »Verstehen Sie Spaß?«, die er nie hatte vergessen können: Ein ahnungsloses Opfer sucht eine öffentliche Toilette auf, um beim Verlassen von einem applaudierenden Publikum begrüßt zu werden. Zunächst hatte ihn die Fremdscham vor dem Fernseher erwischt, dann auf Arbeit, als die Sendung bei den Kolleginnen Thema gewesen war.

      Lotte nahm die Hände von seinem Gesicht, doch anders als erwartet empfing ihn weder ein Geburtstagsständchen noch der Jubel der Kuxwinkler, kein »Happy Birthday«, kein »Hoch soll er leben«. Mit Ausnahme der Gebrüder Kowalski belagerten sämtliche Gäste den Tresen. Christian Schauder redete auf jemanden ein, dessen Gestalt von der Runde verdeckt wurde. Zwei Dorfbewohner, die Jannes seit Monaten nicht gesehen hatte, gafften entsetzt wie die Zuschauer eines Unfalls. Einige nuckelten stumm an ihren Bierflaschen, andere gestikulierten wild. Schwerer Zigarettenrauch wälzte sich unter dem Kronleuchter hindurch in den Eingangsbereich und brachte Lottes Augen zum Tränen. Gewiss hatte sie sich den Empfang anders vorgestellt, und als er zwischen den Gästen Erikas besorgtes Gesicht entdeckte, dämmerte ihm, dass etwas aus dem Ruder zu laufen drohte.

      René Berkholz’ Stimme schallte zu ihm herüber. »Wenn die Naturschützer antanzen, ist alles hin.«

      »Leute, Leute«, rief Frank Lewin hinter dem Tresen, »immer mit der Ruhe!«

      »Manometer, es geht um unsere Zukunft.«

      Erika erklomm einen Hocker und blies so lange in eine Papiertröte, bis die Meute verstummte. »Hey, unser Geburtstagskind ist da.«

      Unvermittelt begann Lotte, in die Hände zu klatschen. Jannes’ Mundwinkel sprangen hoch; seine Gesichtsmuskeln wahrten Anstand und Höflichkeit, während sich sein Inneres nach der Dachkammer sehnte. Aus der Anlage lärmte Stevie Wonders »Happy Birthday« und übertönte Lottes Klatschen. Erika und Yvonne Schauder näherten sich ihm, pusteten dabei Luftschlangen umher und präsentierten sich ungeachtet der Situation in Feierlaune.

      »Herzlichen Glückwunsch.« Lotte gab ihm einen Kuss und warf eine Handvoll Konfetti über ihn. »Heute ist dein Tag.«

      »Noch zwei Jahre!«, brüllte Bielecke. »Dann hast du’s geschafft.«

      Der Suffkopf spielte auf seine Rente an. Jannes hatte nie verstanden, weshalb die Leute einem dazu gratulierten, warum sie Dinge sagten wie: Jetzt kannst du endlich machen, was du willst, jetzt fängt das wahre Leben an. Ihm graute vor dem Ruhestand, er wollte weiter seinen Schreibtisch in der AOK-Filiale hüten, wollte fünf Tage die Woche nach Rathenow fahren und mit den Kolleginnen am Kaffeeautomaten schnacken.

      »Nur die allerliebsten Glückwünsche, mein Bester.« Erika umarmte ihn und er konnte unter ihrem Parfüm einen Hauch von Schweiß riechen; die Erinnerung, wie er sie vor 30 Jahren am Schwarzen See geküsst hatte, ließ ihn auf Abstand rücken. In der Angst, seine Verlegenheit zu offenbaren, strich er sich das Konfetti aus den Haaren und die Luftschlangen vom Hemd.

      »Das habt ihr toll gemacht«, bemerkte er. »Wirklich toll.«

      »Bedank dich bei deiner Frau«, entgegnete Erika.

      »Das mach ich jeden Tag, immerzu.«

      »Schön wär’s«, erwiderte Lotte.

      Sie zerrte ihn zum Tresen und sein Lächeln überdauerte die Strecke völlig automatisch. Nachbarn und Bekannte reichten ihm entweder die Hand oder umarmten ihn mit alkoholisierter Innigkeit. Jannes erduldete das alles, und selbst als Erika ihm ein Papierhütchen aufdrängte, schluckte er den Protest hinunter. Frank sagte, er wünsche ihm das ganze Blablabla, schenkte ihm ein breites Grinsen und servierte ihm anschließend ein Bier. Trotz der rosaroten Brille glaubte Jannes, in Franks Augen ein Quäntchen Misstrauen, vielleicht sogar Feindseligkeit zu lesen. Er wich seinem Blick aus und glitt an der Bar entlang, bis er zufällig vor dem Lehrer landete.

      »Alles, alles Gute.« August Brehm rieb ihm liebevoll die Schulter. »Für deine Gesundheit und deine Zukunft.«

      »Danke, danke.«

      »Komm mal vorbei. Ich hab noch ’n paar Astern.«

      »Ist es dafür nicht zu spät?«

      August lächelte. »Im Herbst pflanzen, im Frühjahr bewundern.«

      »Du, Jannes!«, krakeelte René Berkholz dazwischen. »Du bist doch so ’n Paragrafenheini.«

      »Kommt drauf an«, erwiderte er.

      »Hast du mit Gesetzen zu tun oder nicht?«

      »Ja, irgendwie schon.«

      »Dann pass mal auf.«

      Berkholz stierte ihn auf eine Weise an, die nicht nur ihm, sondern der ganzen Meute die Wichtigkeit der nächsten Frage verdeutlichen sollte. »Also«, begann er, »kann ein Bauvorhaben gestoppt werden, bloß weil man aufm Grundstück ’ne besondere Pflanze findet?«

      »Gute Frage.«

      »Ist das ’n Ja oder ’n Nein?«

      Der Satz war noch nicht verhallt, da spürte er bereits Lottes Finger im Kreuz. Zweifellos wollte sie ihn von dieser Diskussion weglotsen, fort von Berkholz und Bielecke und hin zu ihrer eigenen Sippe, die sich brav

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