Network. Ansgar Thiel
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»Der Junge ist doch nicht der, den Sie wollen.«
Fuller lockerte seinen Griff, die Gesichtsfarbe des Jungen wechselte wieder von Blau in Richtung Rot.
»Bitte!«, sagte Babic sanft.
Fuller ließ den Jungen los, der nach Luft schnappend auf die Knie sank.
Babic stellte sich zwischen den Mann und den Jungen, dem sie mit einer Hand aufhalf und mit einem Nicken bedeutete, zur Seite zu gehen.
Statt sich zu entfernen, schubste dieser Babic jedoch zur Seite und stürzte sich mit einem albernen karateähnlichen Sprung auf Fuller, der reflexartig reagierte. Der Schuss riss ihn regelrecht auseinander.
Babic klatschte etwas Nasses, Schweres ins Gesicht. Mit dem Ärmel wischte sie sich die Augen frei. Dass ihr weißes Langarmshirt voller Blut war, ignorierte sie.
Die Zeit schien stillzustehen. Fuller starrte auf den verstümmelten Körper des Jungen.
Ein gequältes »Nein!« entrang sich seiner Kehle.
Babic war vor Wut über das Verhalten des Jungen noch wie paralysiert. So konnte sie auch nicht reagieren, als Fuller auf sie losging und sie in den Schwitzkasten nahm, ihr Ohr an seine Brust gequetscht. Sie konnte sein Herz rasen hören.
Etwas wurde gegen ihre Schläfe gepresst. Vermutlich der G-Booster.
Der Typ hätte ein stärkeres Deo nehmen sollen, war der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss.
Verdammt, schon wieder so eine scheiß Situation, der zweite Gedanke. Na klar, als hätte sie es herbeigerufen, stieg eine Welle saurer Übelkeit von ihrem Magen auf. Ruhig rückwärts von 20 auf null zählen, vergegenwärtigte sie sich eine simple Notfalltechnik, die sie im Trainingslager in San Francisco in simulierten Extremsituationen 100e Male geübt hatten. Es funktionierte auch dieses Mal überraschend gut. In Extremsituationen war sie eigentlich immer relativ cool geblieben, sogar als es ihr sonst ziemlich schlecht ging. Na ja, als ausgebildete Psychologin wusste sie nur zu gut, dass ihre Panikattacken eine irrationale Dynamik hatten und vor allem in Situationen kamen, in denen eigentlich keine Gefahr drohte.
Sie fokussierte ihre Wahrnehmung.
Der Mann atmete schnell, vollkommen außer Fassung. Sie wollte etwas Beruhigendes sagen, doch der Würgegriff des Typs war so stark, dass sie nur ein Krächzen herausbrachte. Das Etikett am Bund seiner Trainingsjacke sprang sie an. Anti-Sweat-Faser. Ihre Wahrnehmung war hyperreal. Die unterschiedlichen Blautöne von Jacke und Hose fielen ihr auf, beide Retro-Jeans, stonewashed. Die ersten Sternchen tauchten in ihrem Sichtfeld auf. Kein so gutes Zeichen. Zu wenig Sauerstoff im Gehirn.
»Ich will meine Identität zurück!«
Die Stimme des Mannes überschlug sich.
Babic spürte ein Kribbeln in ihren Armen. Lang durfte der Würgegriff nicht mehr andauern. Sie riss sich zusammen und kalkulierte. Sie war sich sicher, dass sie ihn außer Gefecht setzen könnte, aber zu welchem Preis? Am Ende einen weiteren Toten? Außerdem kam ihr der Mann nicht wie ein Krimineller vor, eher panisch, vollkommen außer sich.
»Ich will jemanden von der EPD sprechen, oder ich bringe die Frau um!«
Babic zuckte zusammen. Das Geschrei des Mannes schmerzte in ihrem Trommelfell.
Eine ältere Frau, nur etwa eineinhalb Meter entfernt, mit einer Tüte frischer Möhren in der rechten Hand, fing an, leise zu wimmern.
Babic sah aus dem Augenwinkel, dass nun endlich ein Security-Servant des Supermarkts auftauchte. Er richtete ein halbautomatisches Betäubungsgerät auf den Geiselnehmer.
»Versuch doch zu schießen, dann ist die Frau tot«, brüllte dieser in Richtung Servant. Dabei bewegte er sich wie ein gefangenes Tier im Käfig ruckartig hin und her und trat von einem Fuß auf den anderen. Babic, noch immer im Schwitzkasten, fühlte sich, als würde ihr der Kopf von den Schultern gerissen. Sie versuchte, sich synchron mit dem Mann zu bewegen. Ihre Gedanken rasten.
*
Domuan Di Marco schlenderte gedankenverloren den Mehringdamm entlang. Er dachte nach. Über Elvis Presley. Und über sein Date gestern auf Superficial, dem derzeit angesagtesten virtuellen Themen-Dating-Network. Sie hatte fast wie die originale Priscilla Presley ausgesehen.
Mannomann, die hat nicht lockergelassen mit ihren Verschwörungstheorien. Elvis sei Kronzeuge gegen die Memphis-Mafia gewesen, das FBI hätte es verschwiegen, ein Typ namens Clayton Strat hätte beim FBI ein Foto von Elvis aus dem Jahr 1982 gefunden, also fünf Jahre nach Elvis Tod. Klar, was auch sonst. Diesen Unsinn habe ich schon 100e Male gehört. Und dann hätte Elvis noch weitere 40 Jahre als katholischer Priester in Chapel Hill, North Carolina, weitergelebt. Und sei dann erst 2022 im Alter von 87 Jahren gestorben. Die Frau konnte sogar noch eine originale Predigt rezitieren. Gott, sie hat nicht mal damit aufgehört, als wir endlich zur Sache kamen.
Di Marco schüttelte den Kopf. Nach einer halben Stunde hatte er krampfhaft zu überlegen begonnen, wie er aus dieser Nummer wieder rauskäme. Jeez, er war ja selbst Elvis-Fan, aber … Er wollte sie auf keinen Fall beleidigen, deshalb hatte er sich das alles ohne Kommentar angehört.
Wahnsinn. Als sie damit anfing, dass ihr Vater selbst mal Elvis … Wenn ich nicht den Alarm am Visiophone ausgelöst hätte, würde sie wahrscheinlich jetzt noch davon erzählen. Und heute der ganze VS-Message-Terror über das Visiophone. Lauter »soooo süße« Videos. Katzen. Mit Herzchen drunter und Fetzen aus Songtexten. Jetzt wollte sie mich sogar analog treffen. Ein echtes Date. Vielleicht mal nach Memphis touren, hat sie gesagt. Himmel! Die App heißt doch nicht umsonst Superficial. Für virtuelle One-Night-Stands. Mann, warum konnte ich ihr bloß nicht sagen, dass ich dieses wirre Zeug nicht mehr hören kann. Hoffentlich hat sie mir geglaubt, dass ich übermorgen am Traualtar stehe und sie leider niemals mehr treffen darf. Shit, was anderes ist mir einfach nicht eingefallen.
Di Marco verdrängte die Erinnerung. Er wollte sich mit Richie Hensen treffen, um die neue Kollegin, Mia Babic, abzuholen. Er war schon sehr gespannt. Zwar hatte er noch kein Bild von ihr gesehen, aber was die Kollegen über sie erzählten, machte ihn neugierig.
Sein Blick fiel auf das Werbeschild des Fast-Buy, der gegenüber der E-Bike-Leihstation lag, an der er sich mit Richie Hensen treffen wollte. Er schaute auf die Uhr. Es war noch genug Zeit, um eine Flasche Wasser zu kaufen. Kurz lächelte er einer jungen Mutter zu, die gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter an der Haltestelle für Computertaxis saß. Sie erwiderte sein Lächeln. In der Glasscheibe der Eingangstür zum Fast-Buy überprüfte er sein Spiegelbild und griff fast schon automatisch ordnend in seine Tolle.
Er überlegte gerade, ob er den Seiteneingang nehmen sollte, wo eine attraktive ungefähr 40-Jährige stand, die zu ihm herüberlinste, als ihm auffiel, dass etwas nicht stimmte. Die Leute im Laden bewegten sich nicht. Sie schienen auf etwas zu starren. Auch ein Security-Servant stand da wie angewurzelt.
Er spähte durch die Scheibe. Meine Scheiße! Der in Weiß gehaltene Kassenbereich eins war über und über mit Blut bespritzt. Auf dem Laufband lag etwas, das von Weitem aussah wie ein Stück Arm. Langsam bewegte er die rechte Hand, um die Eingangsautomatik zu betätigen.
Der grauhaarige Mann, der eine junge Frau im Schwitzkasten hielt, schien ihn nicht zu bemerken.
Auf Zehenspitzen näherte er sich den Schaulustigen. Du liebe Güte, was für eine Sauerei. Jetzt sah