Puzzeln mit Ananas. Pascale Gmür
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«Da bin ich erleichtert. Ich dachte, hoffentlich meinen Sie nicht, es aushalten zu müssen, falls Ihnen übel wird. Dagegen hätten Sie ja Medikamente.»
«Die brauchte ich nicht.»
Aus dem antiken Bauernschrank holt Ruth Meyer die Plastikkiste mit den Medikamenten und stellt sie auf den Tisch. Auf ihren Schoss legt sie das Tablet, nimmt aus der ersten Schachtel eine Blisterreihe, vergleicht mit der Liste im Pflegedossier, öffnet eine Schachtel nach der anderen und ordnet die weissen, gelben, rosa, grün-weissen Pillen und Kapseln in die kleinen Fächer für morgens, mittags, abends, nachts. Es darf kein Fehler passieren. Frau Baumgartner weiss Bescheid, wofür sie welches Medikament nimmt, aber es sind zu viele und zu viele ähnlich aussehende, um sie selbst zu sortieren. Ruth Meyer nennt jedes einzelne mit seiner Dosierung und Wirkung, dazwischen beantwortet sie eine Frage der Klientin zum Antidepressivum, ohne die Konzentration zu verlieren. Nachdem sie das Dosett gefüllt hat, kontrolliert sie ruhig noch einmal jedes Fach, bevor sie die Tagesschieber schliesst. Wäre Frau Baumgartner weniger gut informiert, oder könnte sie die Medikation nicht nachvollziehen, würde am Nachmittag eine zweite diplomierte Pflegefachfrau kommen, um die von Ruth Meyer gerichtete Medikamentenbox nochmals zu kontrollieren. Die grosse Verantwortung und die Sorgfalt im Umgang mit Medikamenten erfordern mehrere Sicherheitsstufen. So dürfen Fachpersonen Gesundheit die Dispenser zwar vorbereiten, aber überprüft werden sie in jedem Fall durch diplomierte Fachpersonen.
Ruth Meyer ist immer in der häuslichen Pflege tätig gewesen, mit einer entscheidenden Ausnahme: Als junge Frau arbeitete sie als Freiwillige während sechs Monaten mit Mutter Teresa im Sterbehaus von Kalkutta. «Fünfzig Frauen und fünfzig Männer lagen auf Pritschen in zwei Räumen. Gesehen habe ich strube Dinge, hervorgegangen aus der Armut und dem indischen Kastensystem, was mich stärker belastete als die Pflege der Sterbenden.» Sie machte wertvolle Lebenserfahrungen: Weil es in ihrer Natur liegt, vorauszudenken, sorgte sie sich abends schon für den nächsten Tag, wenn das Essen auszugehen drohte. «Doch täglich trafen von irgendwoher Spenden ein, auch für Medikamente und Verbandsmaterial. Das war sehr besonders, und mit der Zeit lernte ich, darauf zu vertrauen.» Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz plante Ruth Meyer, bei der Gemeindekrankenpflege in Balsthal zu bleiben, bis sie das nötige Geld hätte, um nach Afrika zu reisen. Als Kind war sie fasziniert gewesen von Albert Schweitzer und seinem Spital in Lambaréné, nun wollte sie ihren eigenen Weg zur Unterstützung von afrikanischen Menschen finden. Der Zufall wollte es anders: Ruth Meyer lernte in Balsthal ihren zukünftigen Ehemann kennen, wurde fünffache Mutter und Bäuerin.
Als die Kinder grösser waren, stieg Ruth Meyer wieder in die ambulante Pflege ein, nun war es die öffentliche Spitex, nicht mehr die katholische Krankenpflege. «Es ist gut, dass ich immer dabeigeblieben bin, abgesehen von der Familienpause, und alle Entwicklungen der Spitex miterlebt habe. Aber als 2015 die elektronische Pflegeplanung eingeführt wurde, musste ich neu starten – obwohl mich der Computer eigentlich nicht abschreckte, da ich für den Hof die Buchhaltung führte.» Es gab Kolleginnen, die kündigten, als das handschriftlich geführte Pflegeheft durch das Tablet ersetzt wurde. Inzwischen ist der elektronische Begleiter genauso selbstverständlich geworden wie die hellgrünen Berufshosen und das dunkelblaue Shirt mit dem Logo. Wie in vielen Spitex-Regionen waren die Pflegenden auch in Thal jahrelang in Privatkleidern unterwegs und zogen bei den Klientinnen und Klienten einfach die Berufsschürze über.
Ruth Meyer arbeitet nicht nur mit grosser Flexibilität im Übergangsteam, sie leitet zudem den Pflegedienst der zur Spitex Thal gehörenden Tagesstätte für Menschen, die Betreuung benötigen. So können betreuende und pflegende Angehörige regelmässig für einige Stunden entlastet werden. «Es hat mich seit Langem beschäftigt, dass es viele und immer mehr Menschen gibt, die zwar keine Spitex-Pflege benötigen und eigentlich auch gut daheim wohnen können, aber im Alltag begleitet und betreut werden sollten. Angehörige können das nicht allein leisten.» In der neuen Tagesstätte arbeiten vorwiegend Personen, die speziell für Betreuungsaufgaben ausgebildet sind.
Als Ruth Meyer von ihrer Morgentour zurückkommt, erwartet sie eine dringende Neuanmeldung: Von einem Hausarzt, der die Spitex bittet, einem Patienten alle sechs Stunden Morphin zu spritzen. Die Pflegefachfrau hat ein mulmiges Gefühl, weil sie den neuen Klienten noch nie gesehen hat. «Ich möchte nicht einfach das Medikament verabreichen und wieder gehen.» Sie wird das Gespräch mit ihm und seiner Familie suchen, um herauszuhören, was die Spitex alles tun kann. Während Ruth Meyer den Rucksack erneut packt, bereitet sie sich innerlich auf eine Situation vor, zu der sie einzig die medizinischen Informationen hat. Vor Ort vertraut sie ihren Erfahrungen, um zu beurteilen, was sie ansprechen darf und wofür heute nicht der richtige Moment ist. Jeder Einsatz verläuft anders. «Schön ist in unserem Beruf, dass sich wesentliche Dinge nicht wiederholen.»
Von einem Tag auf den anderen war meine Mutter allein zu Hause. Über Nacht war sie Witwe geworden. Ihre Gefühle behielt sie weitgehend für sich, wie sie es schon früher getan hatte, als sie Verluste ertragen musste. Sie habe natürlich Heimweh nach Bruno, doch es gehe ihr gut, sie dürfe nun bloss nicht krank werden. Es klang traurig und tapfer. Mehr aufgeben als notwendig wollte sie auf keinen Fall, über einen möglichen Umzug vom gemieteten Haus in eine Alterswohnung war mit ihr nicht zu diskutieren. Sie überging jede Andeutung des Themas mit schablonenhaften Sätzen: «Ich bin nicht einsam. Langweilig war mir noch nie.»
Während der Pflege meines Vaters hatte das Spitex-Team auch meine Mutter kennengelernt und ihr nach seinem Tod vorgeschlagen, sie in der neuen Lebenssituation zu unterstützen. Ihre Alzheimerkrankheit hatte begonnen, sich zu zeigen. Die bald achtzigjährige Frau, die kaum je beim Arzt gewesen war, nur wenige Tage krank im Bett verbracht und keinerlei Ansprüche gestellt hatte, fand es freundlich, dass jemand zu Besuch kam und ihr zuhörte, nachdem sich wochenlang alles um ihren Mann gedreht hatte. Sie erzählte gern von ihren Reisen und meinte, es gebe noch vieles zu entdecken. Die regelmässigen Kontaktbesuche ermutigten sie. «Meine Spitex-Frau hat mich gelobt, ich würde mein Leben gut meistern», erzählte sie mir am Telefon freudig, ja stolz.
Tatsächlich ging sie täglich spazieren, achtete auf ihr Äusseres, auf farblich abgestimmte Kleider und frisch gewaschene Haare. Doch mit der Zeit drangen Abweichungen ihres Verhaltens nach aussen. Nachbarn meldeten mir, sie lasse nächtelang im ganzen Haus das Licht brennen. «Hör nicht auf das Geschwätz!», sagte sie unerwartet selbstbewusst. Gab sie früher viel darauf, was die Anderen denken könnten, so kümmerte sie sich jetzt nicht darum. «Ich lebe für mich, ich bin frei.» Als später das Verwirrtsein in ihren dunkelbraunen Augen lesbar wurde, wirkte sie einsam.
Dennoch, meine Mutter hätte nie etwas anderes gewählt, als weiterhin daheim zu leben. Es waren die verschobenen Vorgänge im Kopf, welche ihr die Autonomie nahmen. In den nächsten Monaten bildete sich ein Versorgungsnetz, um meine Betreuung und Hilfe zu erweitern. Die Spitex koordinierte den Mahlzeitendienst, die Haushaltshilfe und freiwillige Besucherinnen von Pro Senectute, die meiner Mutter Gesellschaft leisteten. Verwöhnt fühlte sich meine Mutter von der Podologin, die nicht nur ihre Füsse pflegte, sondern sich auch um orthopädische Schuheinlagen kümmerte. Das Gehen wurde trotzdem schwieriger, nicht der Füsse oder Beine wegen, sondern weil die Gehbewegungen im Kopf vergessen gingen. Manchmal stand sie unten an der Treppe zwischen Wohn- und Schlafräumen und fragte: «Wie komme ich dort hinauf?» Während ich vorausging und ihr die Schritte vorzeigte, hörte ich sie hinter mir, sich halblaut ermunternd: «Ich war schon immer eine gute Läuferin. Es braucht halt Übung.» – «Wir könnten in der Stube ein Schlafzimmer einrichten.» – «Nein.
Ich kann das. Oben ist die Aussicht vielversprechend. Du glaubst es nicht, aber ich schaue immer noch jeden Abend auf den See. Jedes Mal ist die Stimmung neu.» Auch gegen das Anbringen eines längst notwendigen Handlaufs wehrte sie sich vehement, das koste zu viel, zur Not rutsche sie auf dem Gesäss rauf und runter. Während Jahren wusste sich meine Mutter in den meisten, auch unerwarteten Situationen zu helfen und scheute keine Anstrengung,