Puzzeln mit Ananas. Pascale Gmür
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Viele Menschen sind auf häusliche Pflege, Behandlung und Betreuung angewiesen. Die Mitarbeitenden der Spitex versuchen vor Ort herauszufinden, was eine sinnvolle Unterstützung beinhalten sollte. Oft stellen sie fest, dass Gespräche am wirksamsten sind. Wer gut umsorgt wird, fühlt sich besser, geht mit Beschwerden gelassener um und kann, falls nötig, mehr Hilfe annehmen. Aus Sicht der Fachleute liesse sich immer etwas optimieren, doch sie sind zurückhaltend und respektieren die Autonomie der Klientinnen und Klienten.
Das Zuhause ist immer ein persönlicher Ort. Keiner wie der andere, einmalig wie das hier stattfindende Leben, ausgeprägter im Alter, wenn die Bewegungen bedächtiger werden und den Radius verkleinern. Die selbst eingerichteten Räume und gewachsenen Gewohnheiten gehören zur eigenen Identität – genauso wie die Bezugspunkte draussen, die Birke vor dem Fenster, die vertraute Nachbarschaft, die Wege, die Läden oder das Café, wo man anderen begegnet. Wer wählen kann, wohnt bis ins hohe Alter und möglichst bis zum Lebensende daheim. Viele befürchten, in einem Spital oder Heim fremdbestimmt zu sein und buchstäblich den vertrauten, sicheren Boden unter den Füssen zu verlieren. Die Spitex nennt das Zuhause den «Ort der Würde».
Eine Studie,13 die auf Befragungen von über achtzigjährigen Spitex-Klientinnen und -Klienten beruht, besagt, dass ältere Menschen eine Bereitschaft zum Risiko zeigen, um wie gewohnt zu leben, selbst wenn sie geschwächt sind. Die Gefahr, zu stürzen, sich zu verletzen oder die eigenen Kräfte zu überfordern, zählt wenig gemessen am Wert der Autonomie und der Angst, nicht mehr sich selbst sein zu können. Lieber ein Risiko eingehen als die Würde aufgeben. In der erwähnten Studie wird von einem alten Mann berichtet, der darauf besteht, seine Kleider selbst zu waschen und zu bügeln, obwohl er unter Schmerzen leidet. Er schildert, wie er sich nach jedem gebügelten Hemd hinsetzen muss, um sich zu erholen. Niemand habe ihm gesagt, er müsse das tun, aber er wolle sich keinesfalls gehen lassen, um nicht so zu werden wie ein Kollege, der schmutzige Hemden trage. Auch wenn die täglichen Aktivitäten viel Energie kosten, bedeutet es Freiheit, sie selbst zu verrichten. Dafür entwickeln vor allem ältere, allein lebende Menschen überraschende Strategien und Tricks.
Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Älterwerden wird in der Schweiz wesentlich unterstützt durch unzählige neuere Wohnformen, beispielsweise Alterssiedlungen oder Mehrgenerationenhäuser, die sich durch eine hindernisfreie Architektur auszeichnen und wo gemeinschaftliche Aktivitäten und gegenseitige Unterstützung stattfinden oder sogar Betreuungs- und Pflegeangebote vorhanden sind.
Das reale Leben findet zu Hause statt, nicht im Heim
Die individuelle Unabhängigkeit zu respektieren und zu stärken, solange die Sicherheit der begleiteten Person nicht ernsthaft gefährdet wird, ist der Spitex ein grosses Anliegen und ein Grundsatz ihrer Arbeit. Wenn jemand seine Medikamente unbedingt selbstständig vorbereiten und einnehmen will, aber offensichtlich mit der Dosierung nicht klarkommt, bemühen sich die Pflegenden, dem Klienten zu erklären, weshalb Hilfe sinnvoll ist. Die betroffene Person zu überzeugen, gelingt am besten, wenn zu ihr bereits eine Beziehung besteht und sie weiss, wie bedeutsam die Spitex für das Leben in der vertrauten Wohnung ist.
Wie viel die Spitex, aber auch Angehörige, Freundinnen und Nachbarn anbieten oder gar übernehmen sollen, bleibt eine heikle Frage, wenn Menschen zwar beeinträchtigt, aber nicht im eigentlichen Sinn pflegebedürftig sind.14 «Wann sollen wir dazwischenfunken? Bei vielen Menschen könnte man einiges aufgleisen: Körperpflege, Haushaltshilfe, Mahlzeitendienst wären von aussen gesehen vielleicht angebracht, aber persönlich nicht erwünscht», stellt Regina Germann fest. «Wenn Leute zufrieden leben, wo sie seit ewig verwurzelt sind und sich trotz gesundheitlicher Einschränkungen gut arrangieren, dann müssen wir die Dinge einfach mal stehen lassen können.» Die diplomierte Pflegefachfrau arbeitet in einem Koordinationsteam der Spitex Zürich. Änderungspotenzial gebe es immer. Doch das Recht auf Selbstbestimmung gelte mehr. «Es kann in einem privaten Zuhause nicht nach unseren Vorstellungen ablaufen. Würden wir alles durchorganisieren und standardisieren, wäre es wie in einer Institution» – was der Aufgabe der Spitex, den Menschen ein gutes Leben in der selbst geschaffenen Umgebung zu ermöglichen, widersprechen würde.
Auszuloten, was jemanden entlasten oder aber überfordern könnte, ist für Regina Germann ein spannender und immer wieder lehrreicher Aspekt der Spitex-Arbeit. Indem sie die Menschen dort erlebe, wo sie sich aufgehoben und am sichersten fühlen, trete sie in ihr reales Leben ein und lerne ihre echten Bedürfnisse, Schwierigkeiten und Ressourcen kennen. Beim Zuhören und beim Beobachten der Gewohnheiten und der Risikobereitschaft lässt sich erkennen, was Würde für das Gegenüber bedeutet. «Von unzähligen Leuten habe ich wichtige Dinge mitgenommen, die ein selbstbestimmtes, gelungenes Leben kennzeichnen mögen.» Sie erzählt von einer Frau, die hundert Jahre alt wurde, viele ihrer Fähigkeiten verloren hatte, nicht aber ihre Lebensfreude. Auch wenn es umständlich, ja beschwerlich war, so ging sie immer noch regelmässig nach Pontresina in die Ferien. Die Bahnreise unternahm sie allein und sagte mehrmals: «Alles, was ich abgebe, kommt nie mehr zurück.» Wenn etwas nicht mehr möglich war, konnte sie es loslassen und sich stattdessen auf etwas anderes konzentrieren.
Der Respekt der individuellen Lebensweise gegenüber, so Regina Germann, stärke die Menschen, damit sie ihren Alltag meistern können. Die Besuche der Spitex sind für viele Menschen, die aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität oft zu Hause sind, der einzige regelmässige Bezug zur Aussenwelt. «Die meisten freuen sich, wenn sie mich sehen. Da wir viele Leute während Jahren begleiten, entstehen starke Beziehungen. Die meisten Klientinnen und Klienten habe ich gern.» Regina Germann spricht an, was für viele Pflegende zur Berufsethik gehört und zweifellos zum Wohl der Leute beiträgt, aber unter Zeitdruck verloren gehen kann: die Bezugspflege. Regina Germann erzählt von einer allein lebenden, älteren Frau, für die sie pflegerisch enorm viel überlegt, geplant, organisiert und ausgeführt hatte. Eines Tages habe die Frau zu ihr gesagt: «Ihr Besuch nützt mir mehr als all die Tabletten, die Sie mir bringen. Wenn ich einen Moment mit Ihnen reden kann, geht es mir nachher besser.» Das war ein Schlüsselerlebnis für Regina Germann. «Manchmal geht es mehr um Menschlichkeit, weniger um ausgeklügelte, wissenschaftlich begründete Pflege. Und ob diese Frau täglich geduscht und perfekt frisiert wird, ist zweitrangig.»
Spitex gehört zum Alltag von Einzelpersonen, Paaren und Familien
In vielen privaten Häusern und Wohnungen gehen Mitarbeitende der Spitex über Jahre mehrmals täglich ein und aus. Kinder, Jugendliche, jüngere und ältere Menschen mit einer chronischen Krankheit oder einer Behinderung können daheim leben, wenn die Spitex berät, pflegt, unterstützt. Sei es, weil eine querschnittgelähmte Frau allein lebt und Hilfe braucht für den Transfer zwischen Bett und Rollstuhl, oder weil Angehörige nicht alle Aufgaben übernehmen können und sollten. Manchmal ist es von Aussenstehenden schwer nachvollziehbar, wie jemand mit einem grossen Bedarf an Pflege zu Hause sein kann und vielleicht sogar die meiste Zeit allein verbringt. Besser verstehen lässt sich die Situation, wenn man diese Person und einige ihrer unverzichtbaren, persönlichen Gewohnheiten kennenlernt. Es entsteht eine individuelle Sicherheit durch die alltäglichen Rituale – mögen sie noch so klein sein wie beispielsweise ein Glas Tomatensaft und zimmerlaute Radiomusik zum späten Frühstück. Für viele Personen ist es unvorstellbar, sich in einer Institution, in einem grossen Haus mit identischen Räumen und fremden, nicht selbst gewählten Mitmenschen anpassen zu müssen.
Die Pflegepläne der Spitex sind individuell abgestimmt und werden veränderten Gegebenheiten angepasst. Gut möglich, dass es genügt, beim An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe und manchmal bei der Körperpflege zu helfen, oder jedes Mal vor dem Essen den Blutzucker zu messen und Insulin zu spritzen. Während dieser regelmässigen Einsätze der somatischen Spitex oder auch während sporadischer, sogenannter präventiver Kontaktbesuche zeigen sich im Gespräch und beim Beobachten, wie eine angemessene Unterstützung der Klienten und der Angehörigen einen Spital- oder Heimeintritt verhindern oder hinauszögern kann. Dank der in der Schweiz überall und für alle präsenten öffentlichen Spitex und