Martin Fourcade. Martin Fourcade
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Es fällt mir schwer, mich von diesem wunderschönen Ding abzuwenden. Meine allererste echte Medaille …
Die Melodie der russischen Nationalhymne für den Olympiasieger Evgeny Ustyugov bringt mich zurück in die Gegenwart. Aus Respekt nehme ich meine Mütze ab und schaue zum französischen Team. Sie sind alle da: Stéphane Bouthiaux, mein Trainer, Siegfried Mazet, mein Schießtrainer, Christian Dumont, der Sportdirektor des französischen Verbandes, unsere vier Musketiere des Gleitens – die Techniker Gaël Gaillard, Christian Favre, Olivier Gonon und Greg Deschamps –, aber auch die Damentrainer Polo Giachino und Lionel Laurent. Links von den Athleten und den Offiziellen der französischen Delegation entdecke ich meine Mutter und meinen jüngeren Bruder Brice, meinen Onkel mit der Kamera in der Hand und meinen Vater, der irgendetwas mit seiner blau-weiß-roten Fahne verdeckt.
Simon, meinen vier Jahre älteren Bruder, durch den ich zum Biathlonsport gekommen bin und der wie ich zur französischen Nationalmannschaft der Olympischen Spiele in Vancouver gehört, sehe ich nicht. Aber ich weiß, dass er da ist.
Als er in Kanada ankam, hatte er einen Weltcup-Sieg in der Tasche und war überzeugt, dass er nun seine Karriere krönen werde. Doch dann lief er durch die olympischen Wettkämpfe wie ein Geist – weit, sehr weit entfernt von seinem üblichen Niveau. Er ist der Star des französischen Kaders – als ich ihn im Zielbereich umarmte, sagte ich zu ihm: »Eigentlich hättest du diese Medaille gewinnen sollen.« Ich halte weiter nach ihm Ausschau, und als ich ihn endlich entdecke, gefriert mir das Blut in den Adern. Da steht er, weinend. Versteckt hinter der Flagge meines Vaters.
Ich erlebe den schönsten Moment meines Lebens, während er den wohl schlimmsten durchmacht. Ich will nun nur noch eins – dieses Podest verlassen, um bei ihm zu sein. Mein Bruder ist verzweifelt, und das ist wichtiger als jedes olympische Podium.
Kapitel 1
Meine Geschwister
Wie könnte ich meine Familie nicht erwähnen, meine beiden Brüder Brice und Simon, wenn ich versuche, den Ursprung meines sportlichen Werdegangs zu analysieren? Alles führt mich in unsere Kindheit zurück, wenn ich daran denke, wie meine Leidenschaft für den Sport geweckt wurde.
Es wäre sicherlich übertrieben zu sagen, dass alles schon dort entschieden wurde: in dieser freien, glücklichen Kindheit, die uns unsere Eltern boten – mir und meinen Geschwistern Brice als Nesthäkchen und Simon als dem Erstgeborenen.
Mag sein, dass ich schon immer ein Wettkämpfer war – aber meine besondere Stellung in der Mitte meiner Geschwister wird auch ihren Teil dazu beigetragen haben.
Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich vor Simon zunächst Angst hatte. Mein großer Bruder war vier Jahre älter als ich, und wenn ich als Kind mit Brice raufte, dem Jüngsten, nahm er automatisch eine Verteidigungshaltung ein. Also musste ich auch ihn angreifen. Und das war etwas ganz anderes …
Das soll aber nicht heißen, dass wir in einem kampflustigen Klima aufwuchsen. Ganz im Gegenteil, meine Eltern, und insbesondere meine Mutter, hassten es, wenn wir Konflikte mit Fäusten statt mit Worten lösten. Trotzdem kam es häufig dazu, weil uns unsere Eltern auch sehr viel Freiraum ließen.
Meine Mutter ist Logopädin und mein Vater Bergführer. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, übernahmen sie ein sehr isoliert liegendes Ferienhaus, eine halbe Autostunde entfernt von Font-Romeu-Odeillo-Via, einer im Naturpark Pyrénées Catalanes gelegenen Gemeinde. »La Cassagne«, wie das Ferienhaus hieß, war ein wunderschönes Anwesen aus Stein, mit Scheunen und einem Stall, Gemeinschaftsräumen und großen Gästezimmern. Und das alles mitten in der Natur, 15 Kilometer entfernt von den nächsten Nachbarn.
Ein Freund meiner Eltern hatte Bienenstöcke in der Nähe aufgestellt und schenkte uns massenweise Honig, den Brice und ich an die Feriengäste verkauften. Es kam regelmäßig vor, dass wir allein waren, um diese in Empfang zu nehmen, bevor unsere Eltern zurückkamen. Wir übernahmen Verantwortung, waren selbstständig, frei. Glücklich. Meine Mutter kümmerte sich um den Obst- und Gemüsegarten, um die Zubereitung der Mahlzeiten und um die Gäste, nachdem sie ihre Sprechstunde in der Praxis in Saillagouse beendet hatte. Sie sorgte auch für die Verpflegung meines Vaters, wenn er mit einer von Packpferden begleiteten Wandergruppe auf eine einwöchige Tour ging.
Später als Teenager erlaubte mein Vater mir einige Male, ihn zu begleiten. Ich lief im Tempo der Erwachsenen, sechs oder sieben Stunden lang pro Tag, führte die Pferde und half mit, das Biwak aufzubauen. Ich liebte diese Momente und war stolz darauf, zu sehen, wie erstaunt die Erwachsenen über meine Ausdauer waren. Ich war der kleine Liebling, der kleine Star der Gruppe …
Unser Leben in La Cassagne kommt mir vor wie ein Traum. Brice und ich vertrieben uns die Zeit damit, auf einen riesigen Baum zu steigen: Wir stellten uns vor, dass er ein Raumschiff wäre. Wir standen uns sehr nahe. Jedes Jahr im Juni spielten wir unsere ganz eigene Version der »French Open« – als die beiden einzigen Spieler dieses Turniers, das wir auf einem unebenen Feldweg vor unserem Haus absolvierten.
Brice war jahrelang mein liebster Spielkamerad. Simon dagegen hatte sich schnell von uns gelöst und spielte lieber mit gleichaltrigen Freunden.
Auf dem Schulweg mussten wir eineinhalb Kilometer laufen bis zu der Straße, an der uns ein Kleinbus, der die kleinen Dörfchen abfuhr, einsammelte. Mein Vater hatte zusätzlich zu seinen Packpferden noch drei andalusische Rösser, die sonst im Schlachthof geendet wären, zu uns geholt. Sie waren wahrscheinlich noch nie geritten worden, aber Brice und ich wussten, wie wir mit ihnen umgehen sollten. Es dauerte einige Zeit, bis meine Mutter verstanden hatte, dass es Pferdehaare waren, die sie auf unseren Hosen fand, wenn wir aus der Schule nach Hause kamen. Wir ritten heimlich auf ihnen bis zur Straße, um nicht zu Fuß gehen zu müssen.
Unser Lebensstil hatte vielleicht ein bisschen was hippiemäßiges. Dazu gehörte ein Fernsehzimmer, das aber nur selten benutzt wurde – und nur nach eingehender Diskussion mit meiner Mutter über das Programm. Erlaubt waren zum Beispiel Tierfilme, am Sonntagnachmittag durften wir auch manchmal eine Zeichentrickserie sehen. Mama zog Gesellschaftsspiele dem Fernsehen vor. Und natürlich wollte ich auch beim Memory nur höchst ungern verlieren …
Obwohl meine Eltern mit dem Ferienhaus und ihren beruflichen Verpflichtungen sehr eingespannt waren, fanden sie immer mal wieder Zeit, um mit der ganzen Familie in Urlaub zu fahren. So kam es, dass wir den Sommer des Jahres 1996 in Québec verbrachten. Simon und ich erinnern uns besonders gut an diese Zeit, weil wir damals im Fernsehen die Olympischen Spiele in Atlanta ansehen durften – im Wohnzimmer der kanadischen Freunde meiner Eltern, die eine Bienenzucht in Saint-Laurent-de-l‘Île-d‘Orléans hatten. Meine Mutter behauptet, sie habe damals auf dem Sofa vor dem Fernseher in unseren Augen ein Funkeln gesehen, das wohl zur Initialzündung für unsere Sportbegeisterung wurde …
In einem anderen Sommer, ein paar Jahre früher, machte auf einer Fahrt ins Landeszentrum der Motor unseres Renault Express nach fünfzig Kilometern schlapp. Mein Vater beschloss deshalb, bei Argelès-sur-Mer ein Segelboot für einen Mittelmeertörn zu mieten. Einer meiner Cousins, der uns damals begleitete, hatte eine ungefähre Vorstellung und vielleicht auch ein paar Kenntnisse vom Segeln – aber das genügte meinem Vater, um sich mit uns aufs Schiff zu begeben. So war das immer: Nie schien er groß beunruhigt zu sein, immer hatte er scheinbar alles im Griff, auch wenn er sich selbst wohl tief im Innern eingestehen musste, dass es manchmal grenzwertig war, in welche Situationen uns seine Aktivitäten brachten. So erinnere mich daran, dass meine Brüder, mein Cousin und ich uns die Zeit im Beiboot vertrieben, während das Segelboot auf den Wellen trieb – bis ich ins Wasser geschleudert wurde, mitten auf dem offenen Meer …
Mag sein, dass sich die