Zivilisation in der Sackgasse. Franz M. Wuketits
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Mit dem „Wir-Gefühl“ und seinen Begleiterscheinungen verhält es sich wie mit Hühneraugen. Normalerweise spielen sie keine Rolle … Aber wie alle biologischen Merkmale – auch die der Psyche – werden sie nicht wirklich überwunden, sondern die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens ist eine Funktion der Umstände. Wehe, der Schuh drückt! Und wenn der Schuh drückt und das „Wir“ sichtbar wird, verstehen offensichtlich viele keinen Spaß. Das Spiel mit dem „Wir“ ist keineswegs so harmlos, wie man es gerne hätte, denn zur Wir-Psychologie gehört auch ein moralischer Imperativ von beeindruckender Schlichtheit: „Groupness geht vor fairness!“
(Voland 2007, S. 37 f.)
Also, die eigene Gruppe ist wichtiger als faires Verhalten gegenüber allen Leuten, die nicht zur eigenen Gruppe gehören. Unter gegebenen ideologischen (religiösen) Rahmenbedingungen kann dieser Imperativ zu ungeheuren Exzessen führen – und hat auch immer wieder dazu geführt. Oder mit den Worten des amerikanischen Wissenschaftsjournalisten William Allman gesagt:
Wenn immer mehr unbekannte Gesichter in einer Gesellschaft auftauchen und die magische „150-Personen-Schallmauer“ … durchbrochen wird, verfallen die Mitglieder dieser Gesellschaft in ein einfaches „Schubladendenken“ und urteilen nach Äußerlichkeiten (beispielsweise ökonomischem Status, Klassenzugehörigkeit oder Rasse), um Feind und Freund auseinanderzuhalten. Leider kann es innerhalb einer Gesellschaft immer wieder zu Reibereien und Dauerfeindlichkeiten zwischen Gruppen kommen, selbst wenn solche Situationen langfristig zu einem gravierenden Problem für die ganze Gesellschaft auswuchern.
(Allmann 1999, S. 333)
Die Ghettos unserer Millionenstädte sind auch nichts weiter als ein Ausdruck des Wir-Gefühls. Es ist kein Zufall, dass sich in einem klassischen Einwanderungsland wie den Vereinigten Staaten von Amerika Einwanderer aus dem jeweiligen Herkunftsland in den großen Städten in eigenen Bezirken oder Bezirksteilen zusammenballten (China Town, Little Italy und so weiter). Leute gleicher Herkunft bleiben gern beisammen. Wenn sie dann auch noch ein gemeinsamer tiefer religiöser Glaube verbindet, dann fällt die Abgrenzung von „den Anderen“ umso schärfer aus. Dieser triviale Umstand ist, wenn sie ihn denn überhaupt wahrhaben wollen, unseren Integrationspolitikern ein Dorn im Auge. Aber das wäre schon ein anderes Thema.
DAS KLEINE VERTRAUTE BAND
Die Sozialisation des individuellen Menschen entwickelt sich im aktiven Wechselspiel zwischen einem heranwachsenden Subjekt und der ihn umgebenden Welt. Das Individuum wird – naturgemäß ungefragt – in diese Welt geworfen, kann sich also nicht aussuchen, wo und wie es seine ersten Lebensjahre verbringt. Diese Banalität hat schon tiefgreifende (existenz-)philosophische Reflexionen beflügelt und zieht auch auf einer profanen Ebene weitreichende Konsequenzen nach sich. Denn von der Art und Weise, wie ein einzelner Mensch aufwächst, wie er mit seiner Umwelt früh interagiert, welche Chancen und Anreize ihm diese bietet, kann abhängen, ob er sich später in der Sozialhilfe engagiert oder zum Massenmörder wird. Das sind freilich Extreme, dazwischen liegen viele individuelle Entfaltungsmöglichkeiten, mit Tendenzen zum „Guten“ oder zum „Bösen“.
Jedenfalls wächst ein Mensch in einer Primärgruppe auf, üblicherweise mit seinen Eltern und – falls vorhanden – Großeltern und (älteren) Geschwistern, und kommt früh in Kontakt mit anderen Verwandten, bald mit anderen Altersgenossen und weiteren Menschen seiner Umgebung. Ursprünglich waren es die bereits kurz beschriebenen Gesellschaften von Jägern und Sammlern, in denen die Sozialisation des Einzelnen erfolgte, später Stammesgesellschaften und Dorfgemeinschaften. In ihnen empfing das Individuum seine ersten prägenden Erlebnisse und entwickelte seine eigenen sozialen Fähigkeiten. Es entstand ein kleines vertrautes Band. Damit soll nicht gesagt sein, dass sich die Sozialisation des Einzelnen in solchen Gemeinschaften stets problemlos und für den Heranwachsenden nur vorteilhaft gestaltete. Ich selbst bin in einem (damals) recht kleinen Dorf aufgewachsen und weiß noch von den „Reibereien“, die auch dort auftraten und wahrscheinlich in jeder Sozietät unvermeidlich sind, unabhängig von ihrer Größe. Die völlig konfliktfreie, friedfertige Koexistenz von Menschen, die einander ausschließlich mit Sanftmut, ohne jeden Neid und Hass begegnen, gab und gibt es immer nur in idealisierten – oder ideologisch verbrämten – Vorstellungen vom Menschen. Den Erfordernissen des realen (sozialen) Lebens halten sie nicht stand.
Die Verhaltensweisen der Akteure in seiner Primärgruppe kann ein Kind recht schnell erkennen und berechnen – man darf die soziale Lernfähigkeit von Kindern nicht unterschätzen –, und es vermag sich darauf einzustellen. Dies jedenfalls, wenn die Akteure ihr Verhalten nicht ständig ändern, sondern ein wenn auch noch so grob gestricktes Verhaltensmuster erkennen lassen. So entsteht ein Band der Vertrautheit. In meiner Dorfgemeinschaft wusste ich bald, wem ich wie zu begegnet hatte, wer höflich zu grüßen war und wem ich mit weniger Höflichkeit begegnen durfte (im Allgemeinen war ich aber gut beraten, es den Erwachsenen gegenüber an Respekt nicht fehlen zu lassen). Und was mir eine gewisse Sicherheit gab, wenn ich mich außerhalb des Elternhauses bewegte, war der Umstand, dass ich den Dorfbewohnern als der Sohn eines ihnen bekannten Ehepaares vertraut war. (Dass ich später, als Jugendlicher, unter manchen Umständen gern darauf verzichtet hätte, steht auf einem anderen Blatt.) Ich erwähne diese persönlichen Erinnerungen nicht, um damit eine wissenschaftliche Überzeugung zu begründen, sondern um eine wissenschaftlich schon gut etablierte Theorie aus eigener Erfahrung zu bestätigen.
Der Mensch ist, noch einmal, das geborene Kleingruppenwesen, und jeder einzelne heranwachsende Mensch erfährt in seiner Primärgruppe jenes Maß an Vertrautheit, das er benötigt, um seinerseits seine Position in dieser Gruppe zu festigen. Heutzutage steht es uns gut an, uns als „Kosmopoliten“ zu gebärden, möglichst allen Menschen vorurteilsfrei zu begegnen, uns überall daheim zu fühlen. Aber dieser verordnete Kosmopolitismus geht an unserer Natur vorbei. Wirklich verlassen kann sich jeder von uns auf nur relativ wenige Menschen. Dazu nochmals Voland (2007, S. 15f.):
Soziale Kohäsion kennt … einen evolutionär gewachsenen Kitt, und der heißt Nepotismus (Verwandtenbevorzugung). Aus seiner Evolutionsgeschichte erklärt sich, warum auch beim Menschen überall auf der Welt soziale Strukturen um Verwandtschaft herum entwickelt sind und warum selbst in der Welt der Moderne mit ihren vorrangig nicht auf Verwandtschaft basierenden Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz und in der Freizeit dennoch in persönlichen Krisensituationen auf Familiensolidarität ziemlicher Verlass ist.
Ausnahmen mögen dabei die Regel bestätigen. Den Nepotismus kann man auch weiter fassen: Bevorzugung von persönlichen (nicht verwandten) Freunden. Aber stets sind es recht wenige Menschen, auf die jeder Einzelne von uns zählen darf, wenn er in Schwierigkeiten steckt. (Auf das Problem des Kosmopolitismus wird in Kapitel 6 noch zurückzukommen sein.)
Es mag anachronistisch erscheinen, bei den heutigen hohen Scheidungsraten – in Deutschland und Österreich liegen sie bei etwa vierzig Prozent – auf die Bedeutung der Familie hinzuweisen. Aber diese Scheidungsraten, besser vielleicht Scheidungsquoten, sind eines der Symptome einer schnelllebigen Zeit, die den Druck auf den Einzelnen erhöhen und den Rückzug in familiäre Vertrautheit erschweren. Zerrüttete Familienverhältnisse erzeugen, was nicht erst durch aufwändige Studien bewiesen werden muss, bei Kleinkindern ein Gefühl der Unsicherheit. Die heutige (westliche) Zivilisation reagiert darauf – und auf andere familiäre Probleme – auf ihre typische Weise: Sie hat die Familienberatung eingeführt, den family coach, einen neuen und irgendwie absurd anmutenden Berufszweig. Wir brauchen in dem Zusammenhang nicht in die Steinzeit zurückzugehen, um zu erkennen, dass da etwas gründlich schiefgelaufen ist.