Zivilisation in der Sackgasse. Franz M. Wuketits
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Schon einfache und oberflächliche Beobachtungen verdeutlichen, dass in der Tierwelt neben egoistischem auch kooperatives und altruistisches Verhalten vorkommt. Altruismus bedeutet, wieder im strengen Sinn der Soziobiologie, die Erhöhung des Fortpflanzungserfolgs anderer auf eigene Kosten. Wie passt das nun mit der Allgegenwart des Egoismus zusammen? Wie konnte sich in einer vom Egoismus beherrschten Welt uneigennütziges Verhalten entwickeln? Die Antwort ist einfach: weil sich solches Verhalten für den Einzelnen durchaus auszahlt. Das Individuum genießt in seiner Gruppe bestimmte Vorteile. Um sich diese aber dauerhaft zu sichern, ist es gezwungen, mit anderen zu kooperieren, die Hilfe, die es von anderen empfängt, bei Gelegenheit auch zurückzuzahlen. In tierischen Gesellschaften regeln sich diese Dinge ganz von selbst, ohne dass bestimmte „Gruppennormen“ vorgegeben wären. Wölfe etwa jagen im Rudel und arbeiten sozusagen zusammen, weil das jedem von ihnen mit höherer Wahrscheinlichkeit Nahrung sichert als die Jagd im Alleingang. Die Jagdgesellschaften prähistorischer Menschen kann man sich analog dazu vorstellen.
Aber auch die heutigen kleinen Menschengruppen sind gewissermaßen mit Jagdgesellschaften vergleichbar. Sie werden durch ein Band von Sympathie und gemeinsamen Interessen zusammengehalten, auch wenn sie nicht miteinander auf Beutefang gehen. Und manchmal bilden sie tatsächlich noch Jagdgesellschaften im buchstäblichen Wortsinn, die wiederum auch dem Knüpfen sozialer Bande dienen können. Auf den (ganzen) Rest der Welt zu pfeifen, kann sich ohnehin kaum jemand leisten, wenn er nicht in völliger Vereinsamung enden will. Aber wer will das schon!
Freilich ist heutzutage, in unserer Ellbogengesellschaft, ein Phänomen nicht zu übersehen, das im Gegensatz zum „gesunden“ als „pathologischer“ Egoismus bezeichnet werden kann. Der gesunde Egoist ist ein guter Sozialingenieur. Er weiß, dass er andere für die Realisierung seiner eigenen Vorhaben braucht, ab und an von anderen Hilfe in Anspruch nehmen muss, und ist daher im Allgemeinen seinerseits zuvorkommend und hilfsbereit. Er weiß, dass sich Freundlichkeit auszahlt, und folgt dem uralten Prinzip des Nehmens und Gebens. Zwar ist er mit sich selbst zufrieden, schöpft aber diese Zufriedenheit auch aus dem freundlichen und freundschaftlichen Umgang mit anderen. Insgesamt ein netter Kerl also, der aber durchaus seine persönlichen Ziele im Auge behält. Dem pathologischen Egoisten hingegen fehlt jedes Gespür für die Bedürfnisse der anderen, er glaubt, niemanden zu brauchen und daher auch niemandem seine Hilfe anbieten zu müssen. Nichts kennzeichnet den pathologischen Egoismus besser als der dumme Werbeslogan „Geiz ist geil“. Er spiegelt die Einstellung einer Gesellschaft wider, welche dabei ist, ihre eigenen Grundlagen zu zerstören.
Der Mensch ist also von Natur aus egoistisch; doch als vergesellschaftetes Lebewesen auch mit der Anlage zur Kooperation und gegenseitigen Hilfe ausgestattet. Wo diese Anlage nicht gefördert, sondern zerstört wird, dort läuft er Gefahr, altbewährte Mechanismen seiner sozialen Evolution auszuschalten und sich in eine Situation hineinzumanövrieren, die mittel- bis langfristig weder das Überleben des Individuums noch den Fortbestand von Sozietäten sichern kann (und seiner Art nicht gerecht wird). Unsere steinzeitlichen Vorfahren waren keine Engel, aber sie wussten „instinktiv“ um die Bedeutung von Gemeinschaft.
WIR UND DER REST DER WELT
Menschen waren also von Anfang an gut beraten, mit anderen zu kooperieren, einander zu helfen. Schon Friedrich Schiller (1759 bis 1805) sah – noch ohne jeden evolutionstheoretischen Hintergrund – die Sache erstaunlich klar:
Hunger und Blöße haben den Menschen zuerst zum Jäger, Fischer, Viehhirten, Ackermann und Baumeister gemacht. Wollust stiftete Familien, und Wehrlosigkeit der Einzelnen zog Horden zusammen. Hier schon die ersten Wurzeln geselliger Pflichten.
(Schiller 1885, S. 21)
Aber wie bereits betont wurde, haben sich alle Grundmuster unseres sozialen Verhaltens in Kleingruppen entwickelt. So funktionierte auch das Prinzip der Gegenseitigkeit zunächst nur in kleinen und gut überschaubaren sozialen Verbänden. Je fester die Angehörigen eines solchen Verbandes aneinandergekittet waren, desto besser konnten sie sich gegenüber anderen, mit ihnen konkurrierenden Gruppen behaupten. So entstand das Wir-Gefühl, das Gefühl der Gruppenidentität, das sowohl für das Individuum als auch für seine Gruppe von elementarer Bedeutung war – und bis heute geblieben ist.
Der Mensch will, worauf schon hingewiesen wurde, irgendwo dazugehören. In der Regel bietet ihm seine Familie die erste und langfristige Gelegenheit dazu, und später erweitert sich sein „sozialer Horizont“ um Freunde und Bekannte, deren Zahl jedoch stets begrenzt bleibt. Aber das Wir-Gefühl kann künstlich auf größere und sogar sehr große soziale Einheiten ausgedehnt werden, mitunter nur vorübergehend, in einer bestimmten Situation. Denken wir an internationale Sportveranstaltungen. Beispielsweise repräsentieren die Teilnehmer an Olympischen Spielen ihr jeweiliges Herkunftsland, und wenn sie einige Medaillen gewinnen, dann gewinnen sie diese für ihr Land, in dem sich dann alle am Sport Begeisterten darüber freuen und „Wir haben gewonnen!“ ausrufen – obwohl sie selbst ja am Wettbewerb gar nicht teilgenommen, sondern diesen bloß im Fernsehen mitverfolgt haben. Genauso verhält es sich bei der Ankündigung eines internationalen Fußballspiels, wenn es etwa heißt, Spanien spielt gegen Deutschland oder Frankreich gegen die Niederlande. Obwohl jeweils nur elf Personen auf jeder Seite um den Sieg ringen, sind Millionen anderer physisch völlig unbeteiligter Personen „dabei“ und brüllen vor Freude bei jedem Ball, den einer aus „ihrer“ Mannschaft ins Tor der gegnerischen Spieler befördert. Hier zählt das bloße Miterleben, und vollkommen irrationalen – tief in unserer Stammesgeschichte verwurzelten – Mechanismen ist es zu verdanken, dass diese Personen den Sieg oder die Niederlage „ihrer“ Mannschaft als Betroffene erleben.
Diese Mechanismen führen zur sozial und kulturell geförderten Bildung von Pseudofamilien, die sich aber auch schnell wieder auflösen können. Denn die durch das Wir-Gefühl zusammengeschweißten Personen, die sich über den Sieg „ihres“ Landes zum Beispiel bei einer Fußball-Weltmeisterschaft freuen, lassen in anderen Situationen, unter anderen Rahmenbedingungen, oft kein gutes Haar an „ihrem“ Land und „ihren“ Landsleuten.
Wenn sie mittel- bis langfristig aufrechterhalten werden, können Pseudofamilien aber katastrophale Auswirkungen zeitigen. Das ideologisch beziehungsweise religiös verstärkte Wir-Gefühl (die Grenzen zwischen Ideologie und Religion sind nicht leicht auszumachen) kann zu ungeheuren Gräueltaten führen. Geschichte und Gegenwart belegen das auf erdrückende Weise. Denn je stärker die Gruppenidentität – und sei es die Identifizierung mit einer Pseudofamilie – ausgeprägt ist, desto höher ist die Bereitschaft, andere, die also nicht „dazugehören“, nicht einfach bloß auszugrenzen, sondern zu verfolgen und auszurotten. Das Dritte Reich ist das bisher schrecklichste Exempel dafür, obwohl „im kleineren Maßstab“ viele andere Beispiele schnell zur Hand sind. Der Genozid, der Völkermord, begleitet die ganze Menschheitsgeschichte. Aus neuerer Zeit in Erinnerung sind die Abschlachtung der Tutsi durch die Hutu im afrikanischen Ruanda oder der zwischen den Völkern des ehemaligen Jugoslawien aufgestaute Hass, der zu Beginn der 1990er Jahre zu gleich mehreren Kriegen führte.
Das Wir-Gefühl und die Ausgrenzung des Anderen oder auch nur des Andersdenkenden sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass noch jeder Tyrann, jeder Diktator Anhänger gefunden hat, die sich fanatisch für die „gemeinsame Sache“ begeistern können und zu jeder Bluttat bereit sind. Versager auf der ganzen Linie, Leute, die unter „normalen“ Umständen nichts zu vermelden haben, finden in einer auf ideologischem (religiösem) Fundament konstruierten Pseudofamilie ihren Anschluss und ihre „Bestimmung“. Dazu gehört kein Verstand, denn – in leichter Abwandlung eines ukrainischen Sprichworts – wo die Fahne weht, bleibt dieser ohnehin in der Trompete. Freilich