Zivilisation in der Sackgasse. Franz M. Wuketits
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Dieser Umstand ist für das vorliegende Buch von besonderem Interesse. Auf das Leben in anonymen Massengesellschaften war der Mensch nicht vorbereitet. Nun aber sieht sich der steinzeitliche Jäger und Sammler, der mit einem kleinen Haufen ihm bekannter und vertrauter Individuen herumstreifte, täglich einer Masse von ihm unbekannten Artgenossen gegenüber, von denen er nichts weiß und meist auch nichts wissen will. Die Grundmuster unseres sozialen Verhaltens – Wir-Gefühl, Freund-Feind-Denken, Kooperation, Bevorzugung (Vetternwirtschaft) – wurden in Kleingruppen gestrickt und haben sich in Jahrmillionen bewährt. Seine kleine Gruppe war für den Einzelnen identitätsstiftend und vermittelte ihm ein Gefühl der Vertrautheit, das ihm in der Massengesellschaft abhandenkommt. Hier begegnet uns also eine Konfliktsituation, die sich in der Gegenwart immer mehr verschärft. Der amerikanische Evolutionsbiologe Richard Alexander hat treffend bemerkt, dass im jüngsten Abschnitt seiner Evolutionsgeschichte die den Menschen hauptsächlich prägende feindliche Macht die Gegenwart anderer Menschen sei (die auch immer mehr werden).
WIE VIELE MENSCHEN VERTRÄGT EIN MENSCH?
Der britische Maler und Verhaltensforscher Desmond Morris ließ in den späten 1960er Jahren mit seinem Buch Der nackte Affe aufhorchen. Der Mensch, so legte Morris ausführlich dar, sei immer noch ein Affe – wenngleich einer mit stark reduzierter Körperbehaarung –, dessen Verhaltensweisen in seiner Stammesgeschichte tief verwurzelt sind und auf Schritt und Tritt seine evolutionäre Vergangenheit erkennen lassen. Wer unsere „äffische“ Abkunft akzeptiert – und nur ideologische beziehungsweise religiöse Motive können heute jemanden daran hindern –, wird sich natürlich nicht daran stoßen. Im Gegenteil, es ist doch faszinierend zu sehen, welchen evolutiven Weg unsere Gattung eingeschlagen, zu welchen geistigen Höhenflügen sie sich emporgeschwungen, welche Fähigkeiten sie kraft ihres Gehirns erworben hat; darunter die Fähigkeit, über ihre eigene Herkunft, ihr Wesen und ihre mögliche Zukunft nachzudenken. Aber im Herzen lebt unsere Gattung noch in der Steinzeit. Der vielleicht beste Beweis dafür ist ihr soziales Verhalten. In seinem erwähnten Buch schrieb Morris Folgendes dazu:
Selbstverständlich haben wir unsere Stammesgeschichte nicht deshalb durchlaufen, um in riesigen Zusammenballungen Tausender und Abertausender von Individuen zu leben. Unser Verhalten ist darauf abgestellt, daß es in kleinen Stammesgruppen von vielleicht weniger als hundert Individuen funktioniert, bei denen jedes Stammesmitglied jedes andere persönlich kennt, wie es auch bei den Tier- und Menschenaffen der Fall ist. In einer Sozialstruktur dieses Typs regelt sich das Einreihen in die Rangordnung mit Leichtigkeit, und die Hierarchie wird stabil, wenn man einmal von dem allmählichen Wechsel absieht, wie er durch das Älterwerden und Sterben der Mitglieder eintritt. Ganz und gar anders und unvergleichlich stärker belastend ist die Situation in den Städten. Tag für Tag kommt der Städter mit zahllosen Fremden in Berührung – und das ist etwas für alle anderen Primaten-Arten Unerhörtes.
(Morris 1968, S. 276 f.)
Dass sich das Einreihen in die Rangordnung in kleinen Gruppen „mit Leichtigkeit“ einstellt, darf man bezweifeln. Vielmehr lernen wir beispielsweise aus Beobachtungen an Schimpansen, dass Macht- beziehungsweise Rangkämpfe praktisch ein „normaler“ Zustand sind, wobei die Tiere auch vor mancher Brutalität nicht zurückschrecken. Bei menschlichen (Klein-)Gruppen verhält es sich nicht anders, auch wenn dabei nicht notwendigerweise Kämpfe im buchstäblichen Sinn ausgetragen werden.
Aber Morris hatte natürlich Recht, dass die dem Menschen ursprünglich eigene Gesellschaftsform die Kleingruppe ist, eine Primär- oder Sympathiegruppe, deren Angehörige einander persönlich bekannt, meist miteinander verwandt oder verschwägert sind. Zwar ist die soziale Welt des heutigen Menschen etwas größer als die sozialen Welten seiner stammesgeschichtlichen Ahnen und der anderen rezenten Primaten, sie geht aber über hundertfünfzig bis zweihundert Individuen nicht hinaus. Doch nicht jedes dieser Individuen nimmt im Kopf des Einzelnen den gleichen Stellenwert ein. Die eigentliche Sympathiegruppe umfasst im Durchschnitt bloß elf Personen (die Fußballelf), wobei sich diese Zahl, wie der Leser für sich selbst nachvollziehen mag, aus der Zahl der nächsten Verwandten und einiger enger Freunde zusammensetzt. Jemand mit sehr großer Verwandtschaft pflegt meistens nicht zu jedem und jeder seiner Verwandten denselben intensiven Kontakt. Vettern oder Basen zweiten oder dritten Grades stehen uns kaum noch nahe, da pflegen wir eher noch enge Kontakte zu alten Schul- oder Studienfreunden, weil uns mit diesen ein längerer gemeinsamer Weg verbindet. Die Frage also, wie viele Menschen ein Mensch verträgt, ist damit schon ziemlich genau beantwortet.
Selbstverständlich kann die Zahl jener Menschen, denen wir flüchtig begegnen, mit denen wir aus beruflichen Gründen korrespondieren und so weiter hundertfünfzig oder zweihundert bei Weitem übersteigen. Das ist heutzutage, in urbanen Gesellschaften, auch häufig der Fall. Meine ausgedehnte Vorlesungs- und Vortragstätigkeit bringt mich mit unzähligen Menschen zusammen, doch in der Regel bleibt es bei kurzen und einmaligen Begegnungen, einer Plauderei beim Abendessen nach einer Vortragsveranstaltung oder in einer Hotelbar. Ich erinnere mich dabei an viele mir sympathische Menschen und würde mich über eine Wiederbegegnung freuen, aber es ist nun einmal nicht möglich, mit Tausenden Personen langfristig Bande der Sympathie zu unterhalten. Das ist freilich nicht zuletzt auch eine Frage der geografischen Nähe oder Ferne. Es ist eines, mit Leuten über Distanz zu korrespondieren, ein anderes, persönliche Kontakte zu pflegen. Wer meint, er habe Tausende Freunde in einem sozialen Netzwerk wie Facebook, verwendet nicht nur den Ausdruck „Freund“ inflationär, sondern verwechselt Virtualität mit Realität (wobei gerade diese Verwechslung erst den lockeren Gebrauch jenes Ausdrucks erlaubt).
Grundsätzlich gilt, dass die Intensität sozialer Interaktion mit zunehmender Zahl der interagierenden Personen abnimmt. Dieser in den Sozialwissenschaften und in der Psychologie (aus der Gruppendynamik) bekannte Umstand ist heute evolutionsbiologisch gut begründet. Er ergibt sich eben daraus, dass Menschen die längste Zeit ihrer Evolution mit stets wenigen ihnen vertrauten Menschen gelebt haben. Wenn die Mitgliederzahl einer beliebigen Gruppierung über eine bestimmte Größenordnung hinauswächst, dann sind die Beteiligten nicht mehr imstande, einen vertrauten, intimen Charakter sozialer Beziehungen miteinander zu pflegen. Sie wenden sich voneinander ab oder bilden innerhalb der größer werdenden Gruppe kleinere Gruppen von Individuen, die sich durch gegenseitige Sympathie, gemeinsame Interessen und so weiter auszeichnen und sich mithin gegenseitig anziehen. (Veranstalter großer Festmahlzeiten sind daher stets gut beraten zu überlegen, wer an der Festtafel neben wem sitzen soll.) Selbstverständlich knüpfen wir in Großstädten so manche flüchtige Bekanntschaft, treffen auf dem Weg zum Arbeitsplatz, auf Lebensmittelmärkten und so weiter immer wieder auf dieselben Leute, was aber nicht heißt, dass wir mit diesen Personen in engerem sozialen Kontakt stehen. Wir grüßen sie freundlich, wechseln vielleicht ein paar Worte mit ihnen und gehen dann unserer Wege. Aber kaum einen von ihnen werden wir spontan zu uns nach Hause zum Essen einladen. (Private Einladungen zum Essen haben schon einen recht intimen Charakter und bleiben daher in der Regel wiederum einer nur kleinen Gruppe von Personen vorbehalten.)
ICH UND DER REST DER WELT
Menschen sind, wie alle Tiere, Egoisten. Im strikt soziobiologischen Sinn bedeutet Egoismus jedes Verhalten, das die reproduktive Eignung, also den Fortpflanzungserfolg auf Kosten anderer erhöht. Voraussetzung für die erfolgreiche Reproduktion ist, klarerweise, das Erreichen des fortpflanzungsfähigen Alters. Um aber zumindest bis dahin am Leben zu bleiben, benötigt jedes Lebewesen Ressourcen: Raum und Nahrung. Damit