Im Austausch mit der Welt. Andrea Franc
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Doch Jubiläen sind verführerisch, sie verleiten zu Mythen und Legendenbildung. Das wollten wir nie, wenn wir 150 Jahre Economiesuisse feiern. Eine von Selbstbeweihräucherung durchströmte Nabelschau unseres Verbands hätte uns zutiefst widerstrebt. Nicht Eitelkeit hat uns angetrieben, sondern Neugier: Was offenbart uns ein kritischer, wissenschaftlich geschärfter Blick in die Archive? Was lehrt uns die Geschichte der Wirtschaftspolitik unseres Landes? Und vor allem: Welche Erfahrungen in der Vergangenheit können uns Orientierung geben in einer unsicheren Gegenwart?
Es freut uns, dass die Basler Wirtschaftshistorikerin Andrea Franc die Entwicklung der Schweizer Wirtschaftspolitik von der napoleonischen Kontinentalsperre bis zu Trumps America-First-Politik und die Rolle von Economiesuisse in dieser Entwicklung aufgearbeitet hat. In minutiöser Kleinarbeit hat sie die Archive des Verbands durchforstet und ihre Erkenntnisse zusammenfassend in den Kontext politischer und wirtschaftlicher Ereignisse in der Schweiz der vergangenen 200 Jahren gestellt.
Wir wünschen uns mit diesem Buch, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, durch den Unternehmermut unserer Vorfahren inspiriert werden und mit Tatkraft die anstehenden Herausforderungen meistern.
Zürich, im Februar 2021
Christoph Mäder, Präsident Economiesuisse
Monika Rühl, Vorsitzende der Geschäftsleitung Economiesuisse
Schweizer Unternehmen in der Weltwirtschaft
Pioniere der Globalisierung
Warum ist die Schweiz das wohlhabendste und politisch stabilste Land der Welt? Weil sie lange – Polemiker mögen sagen, sogar heute noch – gar kein eigentliches «Land» war. Es fehlte ein König, eine dominierende Partei oder Ethnie, ein mit Vetorecht ausgestatteter Präsident, sprich: ein planender Zentralstaat mit einer Agenda. Noch heute haben viele Schweizerinnen und Schweizer Mühe, die Namen der sieben Bundesräte auf Anhieb korrekt aufzuzählen. Die Menschen haben stets selbst die Politik bestimmt, die ihnen zugutekam. Seit Jahrhunderten tragen auf dem Gebiet der Schweiz die kleinstmöglichen Gemeinschaften die Verantwortung für ihr eigenes Wohlergehen und haben stabile und gleichzeitig dynamische Institutionen geschaffen, die Frieden, Sicherheit und Wohlstand garantieren. Unternehmer wurden von keiner ausgabefreudigen und besserwisserischen Obrigkeit durch Steuern und Vorgaben behindert, aber sie mussten sich dafür selbst um aussenpolitische Belange kümmern. Schon im Spätmittelalter handelte die Eidgenossenschaft Abkommen mit europäischen Herrschern aus. Im 19. Jahrhundert, mit der zunehmenden Industrialisierung und Globalisierung, kümmerten sich Unternehmer der Schweizer Kantone um zahlreiche staatliche Belange, angefangen beim Postwesen über den Abschluss von Handelsverträgen mit den Königshäusern Europas bis zu diplomatischen Missionen im damaligen Konstantinopel oder in Schanghai. So erstaunt es nicht, dass der Schweizerische Unternehmerverband Economiesuisse mit dem Gründungsjahr 1870 der mit Abstand älteste (und innenpolitisch bedeutendste) Unternehmerverband der Welt ist. Zudem baut der nationale Verband auf noch länger bestehenden kantonalen Handelskammern auf, deren Geschichte teilweise bis ins Mittelalter zurückreicht. Interessanterweise ging die wirtschaftliche Innovation allerdings oft von der bürgerlichen Mittelschicht in den Städten aus, notabene Untertanen, die erst 1798 in der Helvetischen Republik Mitsprache erhielten. Auch Flüchtlinge aus ganz Europa brachten über Jahrhunderte hinweg Kapital und Know-how in die Schweiz. Innovative Unternehmerfamilien konnten jedoch über Generationen hinweg zum Teil des Patriziats werden, indem sie das Bürgerrecht einer Stadt erwarben. Die meisten eidgenössischen Orte waren patrizisch geprägt und ausgerechnet die direktdemokratischen Landsgemeindeorte in der Innerschweiz waren ökonomisch strukturschwach und haben kaum Innovation hervorgebracht.
Das Primat der unternehmerischen Freiheit vor der politischen Agenda eines Zentralstaates entstand eigentlich aus der Not. Man besinne sich: Die Urschweiz ist eine unwegsame Felsengegend, die zu Zeiten des Rütlischwurs von den Habsburgern teilweise gar nicht erst besteuert wurde, weil sich der mühselige Ritt in eine solch arme Gegend für die Steuereintreiber schlicht nicht lohnte. Es fehlte das politische Glanz und Gloria einer geschichtsträchtigen Monarchie, das die grossen Feldherren militärisch provoziert hätte. Die Provokation, die Rolle der Schweiz als kleines Land mitten in Europa, das sich der politischen europäischen Institution nicht unterordnet, ist neu und entstand erst langsam im Rahmen der Verhandlungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) als eines «freien» Zusammenschlusses 1960, wobei die Schweiz mit Grossbritannien federführend war. Wiederum entstand diese Rolle der Schweiz aus der Not: Nichts verabscheuen Unternehmer – klein, mittel oder gross – mehr, als politische Aufmerksamkeit zu erregen. Vor dem Hintergrund der langjährigen Zusammenarbeit der Schweiz mit Grossbritannien ausserhalb der EWG und des am 1. Februar 2020 vollzogenen Austritts der Briten aus der Europäischen Union (EU) erstaunt es nicht, dass es liberale britische Denker waren, die sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die freihändlerische Tradition der Schweiz interessierten. In den 1830er-Jahren bereiste der britische Unterhausabgeordnete Sir John Bowring mehrere Kantone der Schweiz, besuchte Rathäuser, Manufakturen, Schulen und Gefängnisse und unterhielt sich eingehend mit den Präsidenten der kantonalen Handelskammern. Dies tat Bowring notabene zu einer Zeit, als die Schweiz ein armes Auswanderungsland war, gleichzeitig aber die liberalen Grundlagen für den späteren Wohlstand gelegt wurden. Der Bowring-Report von 1836 zeigt auch noch im 21. Jahrhundert eindrücklich, was den «Wesenskern des Liberalismus» und damit die Schweiz ausmacht: Der Wohlstand der Nation basiert auf den Myriaden von Entscheidungen einzelner Menschen, die im Kleinen Verantwortung übernehmen. Nicht ein absolutistischer Herrscher bestimmte die Geschicke des Landes, sondern unzählige Ratsherren, Bürgerkorporationsvorsitzende, Tagsatzungsabgeordnete, Kommissionsmitglieder, Gemeinderäte, Kantons- und Bundespolitiker, Verbandsdirektoren, aber auch Arbeiter, Bauern und Hausfrauen. Das letzte Wort hatte in manchen Kantonen die Landsgemeinde, im Bundesstaat das Volk. Kantonale Handelskammern gründeten 1870 einen nationalen Verein, den Schweizerischen Handels- und Industrieverein (SHIV), heute Economiesuisse, doch bis ins 20. Jahrhundert bedeutete dies einzig, dass jeweils eine kantonale Handelskammer im Rotationsprinzip wie in der Alten Eidgenossenschaft den Vorort übernahm, sprich, die anderen Kammern erst konsultierte und danach die Geschäfte führte.
Was sind die von Vorortspräsidenten stets beschworenen liberalen Grundwerte? Das Wort «liberal» lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen und bezeichnet in einem allgemeinen Sinn ein respektvolles und tolerantes Verhalten gegenüber anderen. Der Denktradition des Liberalismus liegt das in der Aufklärung entwickelte Verständnis der Freiheit des Einzelnen zugrunde. Der Liberalismus ist das Gegenstück zum Autoritätsprinzip und verlangt kritische Prüfung anstatt Gehorsam gegenüber dem Dogma. Auf staatlicher Ebene bedeutet Liberalismus, dass eine Regierung ihre Macht erst durch Zustimmung erhält und alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Die Freiheit des Individuums im Liberalismus ist untrennbar mit der Übernahme von Verantwortung und dem Streben nach Glück verbunden. Schweizer Unternehmen stehen für diese Werte. Sie sind nicht verhandelbar. Allerdings wurde die konkrete Umsetzung dieser liberalen Werte im Verband zuweilen neu kalibriert. Ein Beispiel dafür sind die unterschiedlichen Haltungen des Vorortspräsidenten Hans Sulzer und des Vorortsdirektors Heinrich Homberger während der Blockadepolitik der Alliierten gegenüber der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.
Der moderne Nationalstaat Schweiz entstand zur gleichen Zeit wie der SHIV. Der Verband wirkte staatsbildend. In den ersten Jahrzehnten des Bundestaates forderte der Vorort den Ausbau des Handelssekretariats und scheiterte. Ein Grund für dieses Scheitern war, dass der Vorort anfänglich lediglich einen Zusammenschluss von Grossindustriellen und Bankiers vertrat. Dass der Vorort im jungen Bundesstaat mit manchen modernen aussenwirtschaftlichen Anliegen auf Ablehnung stiess, ist Ausdruck des schweizerischen Föderalismus. Dieser ist eben nicht nur geografisch zu verstehen, sondern auch