Im Austausch mit der Welt. Andrea Franc

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Im Austausch mit der Welt - Andrea Franc страница 4

Автор:
Серия:
Издательство:
Im Austausch mit der Welt - Andrea Franc

Скачать книгу

mit der Industrialisierung, dem internationalen Handel und dem bürgerlichen Unternehmer verbunden ist. Die Nation entstand, indem sich der bürgerliche Unternehmer Rechte erstritt und Marktordnung verlangte, um in Rechtssicherheit handeln zu können. Die Schweiz, eine «small open economy», musste in zahlreichen Handelskriegen – von Napoleons Kontinentalsperre zu Beginn des 19.Jahrhunderts bis zu Donald Trumps America-First-Politik im 21. Jahrhundert – ihre globale Vernetzung verteidigen. Die Geschichte der Handelskammern der eidgenössischen Orte, des Vororts, der Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft (Wirtschaftsförderung bzw. wf) und schliesslich von Economiesuisse ist ein Schlüssel zur Frage, wie aus der Schweiz eine erfolgreiche Nation wurde.

      Für Forscherinnen und Forscher sind die Economiesuisse-Akten im Archiv für Zeitgeschichte in Zürich eine weltweit rare Fundgrube: ein ununterbrochener, über eineinhalb Jahrhunderte spannender, nicht staatlicher Datensatz zur Wirtschaftsgeschichte der «erfolgreichsten» Nation der Welt. Die daraus gewonnenen Forschungsresultate wurden hier in die neuste, internationale Fachliteratur eingebettet. Die Literaturtitel sind am Ende des Buches aufgeführt, die Zitate aus den Archivakten in Endnoten verzeichnet. Danke an Anna E. Guhl, Biografin des Vorortsdirektors Heinrich Homberger. Herzlichen Dank auch an das Team des Archivs für Zeitgeschichte in Zürich sowie an das Team des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs in Basel. Meinen früheren Arbeitskollegen vom Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) gebührt ebenso ein grosses Dankeschön, auf zahlreiche HLS-Artikel und Bilder habe ich hier zurückgegriffen. Ebenfalls danken möchte ich Bruno Meier vom Verlag Hier und Jetzt, Stephanie Mohler, Andrea Schüpbach, Daniel Nerlich, Pierre Eichenberger, Sabine Pitteloud sowie dem Economiesuisse-Team, namentlich Michael Wiesner, Marc Engelhard, Philippe Oggier, Pascal Wüthrich, Jan Atteslander, Thomas Pletscher, Monika Rühl, Oliver Steinmann und last, but not least Tatja Vojnovic.

      Basel, im Februar 2021

      Andrea Franc

      Das «Freihandels­abkommen» von Marignano

      Aussen­wirtschaft, Unternehmer­tum und Bürger­korporationen

      Als die Genfer Wirtschaftsprofessorin und Präsidentin der neoliberalen Mont Pèlerin Society, Victoria Curzon-Price, zu Beginn des 21. Jahrhunderts gefragt wurde, was denn die Vorteile der Schweiz in der Globalisierung seien, holte sie weit aus: bis zur Reichsunmittelbarkeit der Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden. Die Schweiz sei wohlhabend geworden aufgrund ihrer traditionellen Offenheit gegenüber der Welt und der Wahrung der Handelsfreiheit, so Curzon-Price. Genau diese Freiheit hätten sich die drei Schweizer Urkantone bereits im 13. Jahrhundert erstritten, als sie vom Heiligen Römischen Reich die Reichsunmittelbarkeit erhielten: das Recht, vor keinem fremden Vogt, sondern direkt vor dem Kaiser vor Gericht zu stehen. Wie kommt eine Ökonomin im 21. Jahrhundert dazu, mit der Reichsunmittelbarkeit im Mittelalter die Rolle der Schweiz in der Globalisierung zu erklären? Nun, Ökonomen wissen, dass ein Land «gute» Institutionen braucht, um wohlhabend zu werden und diesen Wohlstand zu bewahren. Im Bestseller «Why Nations Fail» (2012) zeigen Daron Acemoğlu und James A. Robinson anhand zahlreicher Beispiele aus der ganzen Welt und über verschiedene Jahrhunderte hinweg, wie «gute» Institutionen Ländern Frieden und Wohlstand brachten und «schlechte» Institutionen Länder in den Ruin führten. Gemäss Curzon-Price verfügt die Schweiz über vortreffliche Institutionen, um in der Globalisierung zu bestehen, und diese Institutionen hätten sich seit dem Mittelalter herausgebildet. Die traditionell gewachsenen Schweizer Institutionen basierten auf dem ursprünglichen Verständnis von Freiheit als Selbstverwaltung auf möglichst lokaler, tiefster Ebene.

      Es ist kein Zufall, dass der Mythos Rütli – so sehr sich Schweizer Historiker schon früh bemühten, Mythos und historische Mittelalterforschung auseinanderzuhalten – in Schriften des Liberalismus und Neoliberalismus zur Referenz wurde. Dies weniger vonseiten liberaler Schweizer Denker, als insbesondere durch Intellektuelle im Exil, die sich in der Schweiz nicht nur mit Reisen und Ferienaufenthalten eine neue Heimat schufen, sondern sich mit der Schweizer Geschichte auch eine neue Vergangenheit aneigneten. Bekannt sind etwa die Treffen der neoliberalen Mont Pèlerin Society in der Nachkriegszeit in Seelisberg, von wo aus die aus den USA angereisten Exilökonomen einen Spaziergang zur Rütliwiese unternahmen. Dieser mythische Ort und die Legende des Rütlischwurs eignen sich einfach zu gut zur Symbolisierung der Freiheitsidee: Kein Königspalast oder Regierungsgebäude symbolisiert das liberale Staatsverständnis, sondern die leere Rütliwiese. Sie darf von allen Menschen jederzeit betreten werden und erwacht auch erst so zum Leben. Die liberalen Kritiker der Zentralstaatsidee stilisierten das Rütli zum Gegenstück des Palastes von Versailles, des Reichstags, des Kremls oder der Verbotenen Stadt in Peking. Zudem war die Rütliwiese nur ein gelegentlicher Ort der Versammlung – und symbolisierte für Liberale nicht nur das Konzept der direkten Demokratie, sondern auch des Föderalismus.

      Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entdeckten europäische Denker die Schweizer Geschichte mit ihren Mythen und stilisierten die Schweiz zur Wiege der Freiheit. Spannenderweise stimmte auch der Kommunist Karl Marx in die Lobgesänge über die Schweizer ein: «seit fast sechs Jahrhunderten Wächter der Freiheit» seien sie. Die Rütliwiese wurde – in einer eigentlich nicht haltbaren Verknüpfung – zum mythischen Ort des Liberalismus und im 20. Jahrhundert des Neoliberalismus. Dichterinnen und Denker reisten zum Vierwaldstättersee, darunter Germaine de Staël oder Lord Byron. In Deutschland schrieb derweil Friedrich Schiller das Theaterstück «Wilhelm Tell» (1804) und lieferte damit sozusagen das Drehbuch für die republikanischen Revolutionen im Europa des 19. Jahrhunderts. Schillers «Tell» wurde während des Zweiten Weltkriegs am Zürcher Schauspielhaus ununterbrochen aufgeführt. In Deutschland verbot hingegen Hitler das Stück im Jahr 1941. Schiller hat den Eidgenossen auf dem Rütli denn auch die viel zitierten Worte in den Mund gelegt:

      Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,

      in keiner Not uns trennen und Gefahr.

      Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,

      eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.

      Was bei Schiller unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege dramatisch als ein Kampf der Eidgenossen gegen die Knechtschaft der Habsburger beschrieben wurde, war jedoch eine für die Verhältnisse der Zeit friedliche und langsame Herausbildung von Institutionen. Vom 13. bis ins 19. Jahrhundert entwickelten sich in den einzelnen eidgenössischen Orten und Städten eine Vielzahl von Selbstverwaltungsformen. Insbesondere in den Urkantonen verwalteten Korporationen Wälder, Weiden, Gewässer oder Wege gemeinsam, daher auch der Begriff «Allmend» für öffentlichen Boden, der allen gemeinsam gehört. Aus diesen Korporationen entstanden politisch autonome Gemeinden, deren alteingesessene Familien die Nutzungsrechte besassen. Zuzüger, Hintersassen genannt, hatten oft keine Bürgerrechte. Erst nach der Gründung des Bundestaates 1848 erhielten alle Einwohner der Schweiz nach mehreren Anläufen das Bürgerrecht einer Gemeinde. In vielen Schweizer Gemeinden bestehen jedoch bis heute Bürgerkorporationen mit ansehnlichem Wald- oder Feldbesitz, der an sogenannten Banntagen abgeschritten wird. Manche Bürgergemeinden betreiben soziale Einrichtungen wie etwa Pflege- und Altersheime. Gleichzeitig ist in der Schweiz aufgrund der korporativen Tradition die politische Gemeinde als kleinste Selbstverwaltungseinheit nicht nur für Land und Infrastruktur, sondern auch für ihre Einwohnerinnen und Einwohner und damit für das Sozialwesen zuständig.

image

      Die Rütliwiese. Fotografie von Werner Friedli, 1948.

      Diese Selbstverwaltung auf kleinstmöglicher Ebene entdeckten liberale Denker erst spät, im 20. Jahrhundert, als einen weiteren zentralen Aspekt der «guten» Schweizer Institutionen. Ökonomen im 20. Jahrhundert sprachen von Föderalismus, Dezentralismus oder auch von «small is beautiful». Anstatt gegen die Knechtschaft durch eine Obrigkeit zu kämpfen, wurden in den Schweizer Kantonen Institutionen

Скачать книгу