Im Austausch mit der Welt. Andrea Franc
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Mangels eines obrigkeitlichen Zentralstaates blieb die Schweiz von dieser Plan- und Schutzpolitik verschont und bildete im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts tatsächlich eine freihändlerische Insel in Europa. Einzig die Berner Handelskammer, der «ständige Kommerzienrat», versuchte sich kurzzeitig mit merkantilistischer Wirtschaftspolitik. Diese brachte jedoch der Berner Wirtschaft keinen Schaden, da sich Bern gleichzeitig als europaweit bedeutendster institutioneller Anleger positionierte und auf dem Londoner Finanzmarkt dermassen erfolgreich war, dass Bern im 18. Jahrhundert kaum Steuern erheben musste. 1798 beschlagnahmte allerdings die französische Armee den Berner Staatsschatz. Während der Berner Grosse Rat bis zur Französischen Revolution vor allem mit Geldgeschäften erfolgreich war, fand die Industrialisierung der Schweiz anderswo statt: in der Ostschweiz sowie im Jura. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts erarbeiteten die kaufmännischen Direktorien und Obrigkeiten der verschiedenen eidgenössischen Orte Gewerbegesetze, um für die boomende Textil- und Uhrenindustrie Rahmenbedingungen zu schaffen. Zudem arbeiteten die eidgenössischen Orte zusammen, sodass etwa innereidgenössische Zölle tief gehalten wurden und die Schweizer Manufakturen nicht verteuerten. Die Eidgenossenschaft war im 18. Jahrhundert ein Tigerstaat Europas: Gut ausgebildete Handwerker produzierten zu tiefen Löhnen Konkurrenzprodukte für den Weltmarkt.
Plakat der Wirtschaftsförderung für die Abstimmung zum Uhrenstatut 1961.
Die wirtschaftliche und politische Staatsbildung der Schweiz ging einher mit der Identitätskonstruktion auf ideeller Ebene: Die Schweizer sahen sich selbst als ein Volk einfacher Bauern, das arm war und hart arbeitete, aber «auserwählt» war. Bereits im 15. Jahrhundert, im «Weissen Buch von Sarnen», wird die Geschichte von Willhelm Tell und der Gründung der Eidgenossenschaft als Allegorie auf die biblische Geschichte von David und Goliath erzählt. Die armen, aber frommen, edlen Schweizer Bauern lehnten sich darin gegen die europäischen Feudalherren auf wie der Hirtenjunge David gegen den Riesen Goliath. Der bescheidene Bauer diente als Handlanger direkt dem Herrgott. Während in der Schweiz wie in keinem anderen Land Europas die Industrialisierung und das Finanzwesen Fuss fassten, entstand gleichzeitig die nationale Identität der Schweiz als Land der einfachen Bauern und Hirten. Diese Selbstdefinition trug die Schweiz im Rahmen der Geistigen Landesverteidigung unter der Losung «Schweizerart ist Bauernart» durch den Zweiten Weltkrieg und prägte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Europapolitik. Vorortsdirektor Gerhard Winterberger unterschrieb Briefe an seinen Mentor, den in Genf unterrichtenden Ökonomieprofessor Wilhelm Röpke, mit «Ihr Hirtenknabe» und gab sich damit selbst unumwunden die Rolle Davids. Dass die umliegenden europäischen Grossmächte und die sich gerade bildende EWG Goliath sei, steht ebenso in Winterbergers Schriften: Ein Beitritt der Schweiz zur EWG würde «der Schweiz den Todesstoss versetzen und unsere politische Lebensform auslöschen», schrieb Winterberger 1960. Der «geistige Habitus der Bergbauern» habe die Schweiz erfolgreich durch die Jahrhunderte getragen, während die europäischen Adligen auf die Schweizer als Bauerntölpel heruntersahen, aber eigentlich neidisch waren auf deren Freiheit. Diesen Neid der europäischen Aristokratie auf die freien Schweizer hat Friedrich Schiller in seinem Theaterstück über Wilhelm Tell der Stauffacherin in den Mund gelegt, die ihren Mann anstachelt:
Er ist dir neidisch, weil du glücklich wohnst,
ein freier Mann auf deinem eignen Erb’.
Denn er hat keins.
Vom Kaiser selbst und Reich trägst du dies Haus zu Lehn,
du darfst es zeigen.
Dieses Bild des einfachen Bauern, Hirten oder Holzfällers, der lieber in Armut lebt und hart arbeitet, als vor fremden Vögten niederzuknien, bestimmt bis heute die Wirtschaftspolitik der Schweiz. Die Beschwörung der Widerborstigkeit der einfachen, aber freien Eidgenossen war insbesondere in der Zeit des Absolutismus und der politischen Wirren bedeutsam, als Schweizer Kaufleute sich nicht an die merkantilistischen Schutzgesetze der Grossmächte hielten und exportieren fast zwangsläufig schmuggeln bedeutete. Geschmuggelt haben Schweizer Kaufleute im Ancien Régime nicht nur Indiennes (bunt bedruckte Baumwollstoffe), Uhren und Tabak, sondern auch in Europa verbotene oder zensurierte Bücher. Wirtschaft und Weltanschauung, der Austausch von Waren oder Ideen, waren untrennbar miteinander verbunden. Die Französische Revolution von 1789, die dem Zeitalter des Absolutismus buchstäblich die Halsschlagader durchtrennte, machte den Export von Waren und Ideen aus der Schweiz für die kommenden zwei Jahrzehnte noch lebensgefährlicher. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren viele Regionen der Schweiz trotz halsbrecherischer Schmuggeltätigkeit der Schweizer Kaufleute verarmt. Napoleons Wirtschaftsblockade war noch effektiver als seine militärischen Verwüstungen.
Die Französische Revolution brachte nicht nur – wie alle europäischen Revolutionen – innert weniger Jahre Tausende von Flüchtlingen in die Schweiz, sondern auch neue Ideen, die von Schweizer Politikern vertreten und mancherorts freiwillig, mancherorts erst nach dem Einfall französischer Truppen unter Zwang umgesetzt wurden. Im April 1798 löste die Helvetische Republik die Alte Eidgenossenschaft ab. Laut der neuen Verfassung waren alle eidgenössischen Kantone politisch gleichgestellt, und alle über zwanzigjährigen Männer – mit Ausnahme der Juden – erhielten das Aktivbürgerrecht. Die Helvetik, die Umbruchphase zwischen 1798 und der Mediation Napoleons 1803, setzte den vielen verschiedenen, über Jahrhunderte gewachsenen regionalen politischen Abhängigkeiten sowie den unterschiedlichsten Rechtsformen für Einwohner der Schweiz ein radikales Ende. Die Helvetische Republik drohte im Bürgerkrieg zu zerfallen. Die neuste historische Forschung geht davon aus, dass die Mediationsverfassung Napoleons für den Weiterbestand der Schweiz als Staat in Europa verantwortlich ist. Hauptsächlich machte Napoleon die Zentralgewalt in der helvetischen Verfassung rückgängig und verfügte wiederum eine föderale Form, das heisst die Souveränität der Kantone. Es ist somit eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der Föderalismus, das Alleinstellungsmerkmal des Schweizer Staates, von einem der blutigsten Diktatoren der europäischen Geschichte bestimmt wurde.
Subsidiarität, Souveränität, Selbstbestimmung
Der Begriff Subsidiarität ist die juristische Bezeichnung für das Prinzip der Selbstverwaltung auf kleinstmöglicher Ebene. In der Moderne wurde die Theorie der Subsidiarität zunächst in der katholische Soziallehre von Papst Pius XI. im Jahr 1931 formuliert. In diesem Kontext stand Subsidiarität zunächst ethisch-anleitend; der Einzelne sollte für sein Tun Verantwortung übernehmen. Danach wurde die Idee von liberalen Ökonomen wie Friedrich August von Hayek weiterentwickelt, die das Recht des Einzelnen auf Freiheit sowie dessen Bedeutung für ökonomische Effizienz und für die Bewahrung des Marktes als Entdeckungsverfahren hervorhoben. Das Subsidiaritätsprinzip ist ein zentrales Element des ordnungspolitischen Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft, wie es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg umgesetzt wurde. Das Subsidiaritätsprinzip ist in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union von Maastricht von 1992 sowie in Artikel 5.a in der neuen Schweizerischen Bundesverfassung von 1999 verankert. Souveränität, oder landläufig Selbstbestimmung, bezeichnet die ausschliessliche rechtliche Selbstbestimmung.
Das kaufmännische Directorium St. Gallen-Appenzell
Die mit Abstand älteste Handelskammer der Schweiz ist die Industrie- und Handelskammer St. Gallen-Appenzell. Im ausgehenden Mittelalter schloss sich eine Gruppe St. Galler Kaufleute in der Notenstein-Gesellschaft zusammen, um ihren europaweiten Leinwandhandel zu organisieren. Ein erstes Mitgliederverzeichnis datiert vom 15. August 1466. Die Kaufmannsfamilie Zyli, seit Beginn Mitglied der Notenstein-Gesellschaft, stieg im Laufe des 18. Jahrhunderts ins Bankgeschäft ein. Sitz des Unternehmens war das Haus zum Notenstein beim Brühltor, am Rand der St. Galler Altstadt. In den 1630er-Jahren war die mittelalterliche Gesellschaft zu Notenstein mit ihren wenigen Mitgliedfamilien überholt. Die gesamte städtische Unternehmerschaft konstituierte sich neu in einer Generalversammlung