Im Austausch mit der Welt. Andrea Franc

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Im Austausch mit der Welt - Andrea Franc

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Strukturen des Ancien Régime verhaftet. Daher hatten die kleinen, industriearmen Kantone auch keine Handelskammern, während die Handelskollegien in Zürich, St. Gallen oder Basel bedeutende Arbeit leisteten. Der als Kulturkampf bekannte Konflikt zwischen der liberalen Moderne und dem katholisch geprägten Konservatismus zeichnete sich in der Schweiz bereits kurz nach 1830 ab. Auch hier war die Schweiz Vorreiterin und nahm mit den Jesuitenkonflikten der 1840er-Jahre und mit dem Sonderbundskrieg 1847 zwischen katholisch-konservativen und liberalen Kräften den Kulturkampf im restlichen Europa um das Jahr 1870 vorweg. 1833 lehnte eine Mehrheit der katholisch-konservativen Kantone der Eidgenossenschaft einen ersten Entwurf für eine Bundesverfassung ab. Erst ein – wenn auch moderater – Bürgerkrieg 1847, die nachfolgende Bundesverfassung von 1848 und Verfassungsrevisionen sicherten 1874 sowie 1891 die föderalen Rechte der einzelnen Kantone ab und stellten ein friedenssicherndes Gleichgewicht her, das dem Kulturkampf in der Schweiz den Wind aus den Segeln nahm. Das in der Bundesverfassung mehrfach verankerte Ständemehr hat auch noch im 21. Jahrhundert bei eidgenössischen Volksinitiativen den Ausschlag gegeben. Es ist sozusagen ein Relikt aus Zeiten, als liberale und konservative Kantone Sonderbünde innerhalb des Schweizer Staatenbundes bildeten und in der Schweiz die Spaltung drohte. Die friedenssichernde Wirkung des Ständemehrs bestätigt etwa der Politökonom Silvio Borner:

      Denn im Rückblick auf unsere äusserst erfolgreiche Vergangenheit gibt es zahlreiche Entscheidungssituationen, in denen sich der instinktive Verzicht auf bzw. die systematische Vermeidung von politisch-ökonomischen Anpassungen an veränderte internationale Umweltbedingungen als segensreich erwiesen hat.1

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      Eine der letzten Sitzungen der eidgenössischen Tagsatzung, 1847.

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      Die «Dorfschule» von Albert Anker, 1896. Zahlreiche Kantone hatten in den 1830er-Jahren die allgemeine Schulpflicht in ihren Verfassungen verankert.

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      Als 1870 der Schweizerische Handels- und Industrieverein gegründet wurde, stand vom Bundeshaus lediglich der heutige Westflügel.

      Die Industrialisierung schuf eine neue soziale Schicht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit neuen Bedürfnissen und Anliegen an die staatlichen Rahmenbedingungen. Doch der helvetische Föderalismus – die auch in den 1830er-Jahren weiterhin bestehenden kantonalen Währungen seien nur als ein Beispiel genannt – setzte der Industrialisierung Grenzen und verlangsamte das Tempo des wirtschaftlichen Wachstums. Der Triumph des Liberalismus in der Phase von 1830 bis etwa 1874 wäre nicht möglich gewesen ohne den Einbezug beziehungsweise die Zusicherung von Rechten an die konservativen, landwirtschaftlich geprägten Kantone. Der Einbezug der ländlichen, konservativen Bevölkerung in den staatlichen und damit auch den wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozess hat wohl in verschiedenen Belangen, nicht zuletzt in der Europapolitik, eine Spaltung der Gesellschaft oder gar Sezessionsbestrebungen, wie sie in manchen anderen europäischen Staaten an der Tagesordnung sind, verhindert.

      Im Übergang vom Staatenbund Schweiz nach dem Wiener Kongress 1815 bis zur Bildung und Gründung des Schweizer Bundesstaates 1848 und dessen Weiterentwicklung 1874 und 1891 wandelten sich die tonangebenden kantonalen kaufmännischen Direktorien von Zürich, St. Gallen, Basel oder Genf, Lausanne und Neuenburg von quasi-staatlichen Institutionen zu privaten Vereinen. Mit dem Rückgang der Zünfte und dem Vormarsch der Handels- und Gewerbefreiheit begann der Aufschwung der freiwilligen Verbände sowohl für Gewerbetreibende wie auch für Industrielle, Arbeiter oder Kaufleute. Während der Bundesstaat Form annahm und seine Kompetenzen und Leistungen ausbaute, wurde die Wirtschaft zunehmend zur Privatwirtschaft. Bereits in den Verfassungsänderungen der 1830er-Jahre hatten zwölf Kantone die Handels- und Gewerbefreiheit eingeführt. 1848 ging das Zollwesen an den Bund über. Mit der Revision von 1874 wurde schliesslich die Handels- und Gewerbefreiheit in der ganzen Schweiz eingeführt und damit die freie Marktwirtschaft in der Bundesverfassung verankert. Weiterhin stand damit die Schweiz als Verfechterin des Freihandels auf dem europäischen Kontinent allein da, und auch als Modell des modernen Verfassungsstaates, wie er heute üblich ist und von zahlreichen Entwicklungsländern während der Dekolonisierungsphase der Nachkriegszeit übernommen wurde, ging sie mit nachhaltigem Beispiel voran.

      Mit der Vereinheitlichung des Binnenmarktes und der Währung von 1848 ging eine Welle von Gründungen moderner Geschäftsbanken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einher, darunter beispielsweise der Schweizerischen Kreditanstalt in Zürich 1856. Gleichzeitig brachte die Industrialisierung eine neue, moderne Schicht der Arbeiterklasse. Auch diese soziale Gruppe war international durch Ideen und Schriften vernetzt. 1832 revoltierten mit dem sogenannten Usterbrand zunächst Heimweber gegen die Einführung von Maschinen, in den folgenden Jahren kam es an verschiedenen Orten zu organisierten Streiks. Der Kanton Glarus, eine Hochburg der Textilindustrie, erliess bereits 1862 ein Fabrikgesetz, das den 12-Stunden-Tag vorschrieb. Eine wirtschaftspolitische Konstante bildete der Protektionismus in Europa. Auch nach dem Ende der Kontinentalsperre und dem Wiener Kongress blieben die Absatzmärkte Europas für die Schweiz trotz politischen Friedens schwer zugänglich. Nach der Julirevolution von 1830 kam eine leichte Besserung vonseiten Frankreichs, und zumindest die Durchgangszölle wurden aufgehoben. 1834 entstand unter der Führung Preussens der Deutsche Zollverein. Deutschland wurde damit nach Grossbritannien und Frankreich zum drittgrössten Wirtschaftsraum in Europa.

      Der Begriff «Freihandel» wird in der internationalen Fachliteratur zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Grossbritannien in Zusammenhang gebracht. Einerseits entwickelte dort der Geschäftsmann David Ricardo in einer Schrift von 1819 die Theorie des komparativen Vorteils. Diese besagt, dass jedes Land von Freihandel profitiere, auch das ärmere Land werde verhältnismässig reicher. Gleichzeitig fand in Grossbritannien die sogenannte Corn-Laws-Debatte über das Getreidegesetz statt. Es bildeten sich politische Gruppierungen, die sich für die Abschaffung von Importzöllen auf Getreide einsetzten. In diesem Rahmen reiste der britische Unterhausabgeordnete John Bowring im Auftrag der britischen Regierung in die Schweiz. Er sollte einen Bericht über die eidgenössischen Orte erstellen und aufzeigen, wie die Schweiz Freihandel praktizierte und davon profitierte. Der ausführliche «Report on the Commerce and Manufactures of Switzerland, presented to both houses of parliament by command of His Majesty» ist der erste und sehr wichtige wissenschaftliche Bericht über die schweizerische Volkswirtschaft in den 1830er-Jahren. Zu jedem besuchten Schweizer Ort verfasste Bowring einen Bericht, in dem er nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik, die Bildung, die Kultur und die soziale Sicherheit rapportierte. Er berichtete beispielsweise, dass in Bern Gefängnisinsassen das Schreiben erlernten. Der Bowring-Report ist aber nicht nur ein Bericht über die allgemeine Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, er ist auch ein Lagebericht über die kantonalen kaufmännischen Direktorien. Er zeigt auf, wie die Kaufleute sich in Verbänden organisierten und ordnungspolitische Institutionen schufen. Insbesondere beschreibt Bowring, wie Schweizer Kaufleute für Freihandel plädierten und die Schweizer Wirtschaft gleichzeitig florierte. Bowring war selbst Tuchhändler und Politiker und traf in der Schweiz sozusagen auf Kollegen. In Genf gab ihm etwa Marc-Antoine Fazy Auskunft, der nach Lehrjahren in England eine Spinnerei im Genfer Vorort Carouge errichtet hatte, im französischen Annecy eine Indiennemanufaktur betrieb und in Genf der liberalen Opposition angehörte. In Appenzell unterhielt sich John Bowring ausführlich mit dem bereits betagten Johann Caspar Zellweger, der als Inhaber der Firma Zellweger & Co. nicht nur politisch, sondern auch philanthropisch, als Präsident der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, tätig war. Nebst der prosperierenden Wirtschaft beeindruckten Bowring vor allem die hohe Bildung, der Wohlstand und die generelle Zufriedenheit der Arbeiter in den Kantonen.

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